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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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zusammen mit sechshundert anderen Jugendlichen hatte ich im größten Gebäude das Komplexes meine High-School-Zeit verbracht.
    Ich ging halb um das Gelände herum und bog dann rechts ab, gelangte zu den Basketballfeldern und wartete unter einem rostigen Korb. Links lagen die städtischen Tennisplätze. Ich hatte auf der High School Tennis gespielt. Ich war sogar ganz gut gewesen, doch mir fehlte der Kampfgeist, den man zum Leistungssport braucht. Daher hatte ich es nie weit gebracht. Ich wollte zwar nicht verlieren, setzte aber nie alles daran, jedes Spiel zu gewinnen.
    »Will?«
    Ich drehte mich um, und als ich sie sah, stockte mir das Blut in den Adern. Sie war anders gekleidet – Hüftjeans, Siebziger-Jahre-Clogs und ein viel zu enges, viel zu kurzes Hemdchen, das den Blick auf einen flachen, wenn auch gepiercten Bauch freigab – , aber Gesicht und Haare … ich dachte, ich müsste umkippen. Ich sah einen Moment zur Seite, zum Fußballplatz hinüber, und ich hätte schwören können, dass ich Julie da draußen erblickte.
    »Ich weiß«, sagte Katy Miller. »Als wenn man einem Geist begegnet, stimmt’s?«
    Ich sah sie wieder an.
    »Mein Dad«, sagte sie und steckte die schmalen Hände in ihre engen Jeanstaschen, »kann mir immer noch nicht ins Gesicht sehen, ohne zu weinen.«

    Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Sie kam näher. Wir betrachteten die High School. »Warst du auch hier?«, fragte ich.
    »Hab vor ’nem Monat meinen Abschluss gemacht.«
    »Hat’s dir Spaß gemacht?«
    Sie zuckte die Achseln. »Bin froh, hier rauszukommen.«
    Die Sonne schien, daher sahen wir das Gebäude nur als strenge Silhouette, und für einen Moment wirkte es fast wie ein Gefängnis. High Schools sind so. Zu meiner Zeit war ich ziemlich beliebt gewesen. Ich war stellvertretender Vorsitzender der Schülermitverwaltung und zweiter Kapitän der Tennismannschaft. Ich hatte jede Menge Freunde. Aber wenn ich versuchte, mich an die schönen Augenblicke aus dieser Zeit zu erinnern, fiel mir nichts ein. Alles war mit der Unsicherheit behaftet, die diese Jahre bestimmt. Im Rückblick kommt einem die High School – das Erwachsenwerden, wenn man so will – wie ein unendlicher Kampf vor. Man muss ihn nur überleben, irgendwie durch- und am Ende möglichst heil herauskommen. Ich war in der High School nicht glücklich. Ich kann auch nicht sagen, ob ich es hätte sein sollen.
    »Das mit deiner Mutter tut mir Leid«, sagte Katy.
    »Danke.«
    Sie zog eine Schachtel Zigaretten aus der Gesäßtasche und bot mir eine an. Ich lehnte ab. Ich beobachtete, wie sie sich eine anzündete, und widerstand dem Bedürfnis, ihr einen Vortrag über ihre Gesundheit zu halten. Katy ließ mich nicht aus den Augen. »Ich war ein Unfall, weißt du? Ein Nachzügler. Julie war schon auf der High School. Die Ärzte hatten meinen Eltern erzählt, sie könnten keine Kinder mehr kriegen. Dann …« Wieder zuckte sie die Achseln. »Sie haben überhaupt nicht mit mir gerechnet.«
    »Ist ja nicht so, als wären wir anderen alle die perfekt geplanten Wunschkinder«, sagte ich.

    Sie lachte kurz auf, und das Geräusch erschütterte mich zutiefst. Es war Julies Lachen. Es verhallte sogar genau wie ihres.
    »Ich muss mich auch noch für meinen Vater entschuldigen«, sagte Katy. »Er ist einfach ausgetickt, als er dich gesehen hat.«
    »Ich hätte nicht hingehen sollen.«
    Sie nahm einen langen Zug und legte den Kopf schief. »Was wolltest du bei uns?«
    Ich überlegte. »Weiß ich nicht«, sagte ich dann.
    »Ich hab dich gesehen. Gleich als du um die Ecke gekommen bist. Das war komisch. Ich weiß noch, wie ich dich als kleines Kind beobachtet habe, wenn du von euerm Haus zu uns rübergekommen bist. Von meinem Zimmer aus – ich hab immer noch dasselbe Zimmer. Das war fast wie ein Blick in die Vergangenheit. War echt seltsam.«
    Ich sah nach rechts. Die Zufahrt war leer, aber an Schultagen parkten die Eltern hier und warteten auf ihre Kinder. Vielleicht habe ich keine uneingeschränkt positiven Erinnerungen an die High School, aber ich weiß noch, wie meine Mom mich hier in ihrem alten roten Volkswagen abgeholt hat. Sie saß im Wagen, las eine Zeitschrift, und wenn ich nach dem Klingeln auf sie zukam und sie mich sah, das erste Mal den Kopf hob und spürte, dass ich in der Nähe war, dann lächelte sie. Das Sunny-Lächeln, das aus tiefstem Herzen kam, dieses blendende Lächeln voller bedingungsloser Liebe, und es traf mich tief, als mir bewusst wurde, dass mich

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