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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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durchbrechen. Mir fiel nur der Klassiker ein. »Ist lange her.«
    »Will?«
    »Ja.«
    »Ich würd mich gern mit dir treffen.«
    »Klar, das wäre prima.«
    »Heute vielleicht?«
    »Wo bist du?«, fragte ich.
    »Ich bin in Livingston«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Ich hab dich bei uns am Haus gesehen.«
    »Tut mir Leid.«
    »Ich kann in die Stadt kommen, wenn du willst.«
    »Nicht nötig«, sagte ich. »Ich fahr nachher meinen Vater besuchen. Sollen wir uns vorher treffen?«
    »Ja, okay«, sagte sie. »Aber nicht hier. Erinnerst du dich an die Basketballfelder an der High School?«
    »Klar«, sagte ich. »Ich bin um zehn da.«
    »Okay.«
    »Katy«, sagte ich und zögerte. »Ich muss sagen, ich finde diesen Anruf ein bisschen seltsam.«
    »Ich weiß.«
    »Warum willst du dich mit mir treffen?«
    »Was glaubst du?«, erwiderte sie.
    Ich antwortete nicht sofort, doch das machte nichts. Sie hatte schon aufgelegt.

14
    Will verließ seine Wohnung. Der Ghost beobachtete ihn.
    Der Ghost folgte ihm nicht. Er wusste, wohin Will ging. Doch als er ihm nachsah, beugten und streckten seine Finger sich, beugten und streckten sich immer wieder. Seine Unterarmmuskulatur spannte und entspannte sich. Sein ganzer Körper zitterte.
    Der Ghost dachte an Julie Miller. Er dachte an ihren nackten Körper im Keller. Er dachte daran, wie sich ihre Haut angefühlt hatte, anfangs warm, aber nur kurz, dann immer fester, bis sie sich fast wie feuchter Marmor angefühlt hatte. Er dachte an ihre gelb-violette Gesichtsfarbe, die kleinen roten Flecken in den hervorquellenden Augen, die vor Entsetzen und Überraschung verzerrten Gesichtszüge, die geplatzten Blutgefäße, den eingetrockneten Speichel auf ihrer Wange, der fast wie eine Messerstichnarbe aussah. Er dachte an den unnatürlichen Winkel ihres Halses im Tode, daran, wie der Draht ihr durch die Haut in die Speiseröhre gedrungen war und sie fast enthauptet hätte.
    Das viele Blut.
    Strangulation war seine liebste Exekutionsmethode. Er war in Indien gewesen und hatte dort den Thug-Kult der stillen Mörder studiert, die die geheime Kunst des Erdrosselns perfektioniert hatten. Im Lauf der Jahre hatte der Ghost auch den Umgang mit Pistolen, Messern und anderen Waffen erlernt, doch wenn möglich wählte er immer noch die kalte Effizienz, das endgültige Schweigen, die kühne Macht und den persönlichen Touch der Strangulation.
    Ein vorsichtiger Atemzug.
    Will verschwand aus seinem Blickfeld.
    Der Bruder.

    Der Ghost dachte an die vielen Kung-Fu-Filme, in denen ein Bruder ermordet wird und der andere loszieht, um seinen Tod zu rächen. Er überlegte, was geschehen würde, wenn er Will Klein einfach umbrachte.
    Nein, darum ging es hier nicht. Hier ging es um weit mehr als um schlichte Rache.
    Trotzdem musste er weiter an Will denken. Schließlich war er der Schlüssel in dieser ganzen Sache. Hatten die Jahre ihn verändert? Der Ghost hoffte es. Doch er würde es noch früh genug erfahren.
    Ja, fast war es an der Zeit, sich mit Will zu treffen und über die alten Zeiten zu plaudern.
    Der Ghost überquerte die Straße zu Wills Mietshaus.
    Fünf Minuten später war er in der Wohnung.

    Ich nahm den Stadtbus raus zur Kreuzung Livingston und Northfield Avenue. Der strahlende Mittelpunkt des großen Vororts Livingston. Die alte Grundschule hatte man zu einer Einkaufszeile für arme Leute umgebaut, mit Spezialgeschäften, die nie etwas zu verkaufen schienen. Ich stieg zusammen mit ein paar Hausangestellten aus dem Bus, die hier arbeiteten. Die absurde Logik des Berufspendlertums. Die, die in Orten wie Livingston wohnen, fahren morgens nach Manhattan; die, die ihre Häuser putzen und auf die Kinder aufpassen, pendeln in die Gegenrichtung. So gleicht sich alles aus.
    Ich ging die Livingston Avenue entlang in Richtung Livingston High School, die mit der Livingston Public Library, dem Livingston Municipal Court Building und der Livingston Police Station in einem Komplex zusammengefasst war. Erkennen Sie die Gemeinsamkeiten? Alle vier Gebäude waren aus Backstein und sahen aus, als wären sie zur selben Zeit, vom selben Architekten
und aus demselben Material erbaut worden – als hätte ein Gebäude das nächste gezeugt.
    Hier bin ich groß geworden. Als Kind habe ich mir aus dieser Bibliothek die Klassiker von C. S. Lewis und Madeleine L’Engle ausgeliehen. Mit achtzehn hatte ich in diesem Gerichtsgebäude Einspruch gegen ein Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erhoben (und verloren). Und

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