Kein Lebenszeichen
Nebraska
Sheila wollte allein sterben.
Seltsamerweise hatte der Schmerz jetzt nachgelassen. Sie fragte sich, warum. Es gab jedoch kein Licht, keinen Augenblick der Klarheit. Der Tod spendete keinen Trost. Sie war nicht von Engeln umgeben. Auch kamen keine längst verstorbenen Verwandten – sie dachte an ihre Großmutter, die Frau, die ihr das Gefühl gegeben hatte, etwas Besonderes zu sein, die sie »Schatz« genannt hatte – und hielten ihre Hand.
Allein. In der Dunkelheit.
Sie öffnete die Augen. Träumte sie jetzt? Schwer zu sagen. Vorhin hatte sie Halluzinationen gehabt. Sie war mehrmals in Ohnmacht versunken und dann wieder aufgewacht. Sie erinnerte sich, dass sie Carlys Gesicht gesehen und sie angefleht hatte, wegzugehen. War das wirklich passiert? Wahrscheinlich nicht. Das war wohl nur eine Illusion gewesen.
Wenn die Schmerzen schlimm wurden, wirklich schlimm, verschwamm die Grenze zwischen Traum und Realität. Sie kämpfte nicht mehr dagegen an. Nur so kann man die Todesqualen
überstehen. Man versucht, sich dem Schmerz zu stellen. Wenn das nicht funktioniert, versucht man, ihn in überschaubare Zeitabschnitte zu unterteilen. Wenn das auch nicht mehr funktioniert, gibt es nur einen Ausweg: den Verstand.
Man verliert den Verstand.
Aber wenn man noch merkt, was passiert, verliert man ihn dann wirklich?
Tiefgründige philosophische Fragen. Das war etwas für die Lebenden. Im Endeffekt, nach all den Träumen und Hoffnungen, nach der Zerstörung und der Erneuerung, würde Sheila Rogers jung, unter Qualen und durch die Hand eines anderen sterben.
Wahrscheinlich ausgleichende Gerechtigkeit.
Denn jetzt, als sie merkte, wie sich in ihr etwas abspaltete, abriss und sich löste, verspürte sie tatsächlich eine große Klarheit. Eine furchtbare, unabdingbare Klarheit. Die Scheuklappen fielen von ihren Augen, auf einmal sah sie die Wahrheit.
Sheila Rogers wollte allein sterben.
Doch es war jemand bei ihr im Zimmer. Sie war sich ganz sicher. Sie spürte die sanfte Hand auf ihrer Stirn. Ihr wurde kalt. Als sie spürte, wie die Lebenskraft sie verließ, äußerte sie einen letzten Wunsch.
»Bitte«, sagte sie. »Geh weg.«
11
Squares und ich sprachen nicht über das, was wir gesehen hatten. Wir riefen auch nicht die Polizei. Ich dachte an Louis Castman, der in dem Zimmer gefangen war, sich nicht bewegen konnte, nichts zu lesen, kein Fernsehen oder Radio und nichts anzusehen hatte, außer den alten Fotos. Wäre ich ein besserer Mensch, hätte es mich wahrscheinlich interessiert.
Ich dachte auch an den Mann aus Garden City, der auf Louis Castman geschossen und Tanya dann im Stich gelassen hatte. Seine Zurückweisung hatte bei Tanya wahrscheinlich tiefere Narben hinterlassen, als Castman es je fertig gebracht hätte. Ich fragte mich, ob Mr Garden City noch an Tanya dachte oder ob er einfach weitergelebt hatte, als hätte es sie nie gegeben. Ich fragte mich, ob ihn ihr Gesicht in seinen Träumen verfolgte.
Ich bezweifelte es.
Ich dachte an all das, weil ich neugierig und entsetzt war. Aber ich tat es auch, weil es mich davon abhielt, an Sheila zu denken, daran, wer sie gewesen war und was Castman ihr angetan hatte. Ich hielt mir vor Augen, dass sie das Opfer gewesen war, dass man sie entführt, vergewaltigt und ihr noch Schlimmeres angetan hatte, und dass sie am Rest der Geschichte nicht schuld war. Meine Einschätzung ihrer Person hätte sich nicht verändern dürfen. Doch diese klugen und besonnenen Gedanken überzeugten mich nicht.
Und ich hasste mich dafür.
Es war fast vier Uhr morgens, als der Bus vor meiner Haustür hielt.
»Was hältst du davon?«, fragte ich.
Squares strich mit der Hand über seine Stoppeln. »Das, was Castman am Schluss gesagt hat, dass es nicht wieder weggeht, das stimmt.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«
»Ja, allerdings.«
»Und?«
»Und daher glaube ich, dass irgendwas aus ihrer Vergangenheit wieder aufgetaucht ist und sie erwischt hat.«
»Dann sind wir auf der richtigen Spur.«
»Wahrscheinlich«, sagte Squares.
Ich legte die Hand auf den Türgriff und sagte: »Egal, was sie
getan hat – egal, was du getan hast –, vielleicht werdet ihr’s nie wieder los. Aber das heißt nicht, dass ihr für alle Zeit verdammt seid.«
Squares starrte aus dem Fenster. Ich wartete. Er starrte weiter. Ich stieg aus, und er fuhr davon.
Die Nachricht auf dem Anrufbeantworter überraschte mich. Auf der Anzeige erkannte ich, dass sie um 23.47 Uhr eingegangen war. Ziemlich
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