Kein Lebenszeichen
der Hilfssheriff. Gypsy war der Schäferhund der Randolphs. »Er hat sie gerochen.«
»Wo sind die Jungs jetzt?«
»Dave hat sie nach Hause gebracht. Sie waren ziemlich durcheinander. Die Aussagen hab ich aufgenommen. Sie wissen nichts.«
Bertha nickte. Ein Kombi kam auf dem Highway angerast. Clyde Smart, der Gerichtsmediziner des Countys, hielt mit quietschenden Bremsen. Er stieß die Wagentür auf, sprang heraus und rannte auf sie zu. Bertha hielt sich die Hand vor die Augen.
»Kein Grund zur Eile, Clyde. Sie läuft uns nicht weg.«
George kicherte.
Clyde Smart kannte das schon. Er ging auf die fünfzig zu, war also etwa in Berthas Alter. Die beiden arbeiteten schon seit fast zwanzig Jahren zusammen. Clyde beachtete ihren Witz nicht und lief an ihnen vorbei. Er sah auf die Leiche hinab und seine Miene verfinsterte sich.
»Heilige Mutter Gottes«, sagte der Gerichtsmediziner.
Clyde hockte sich neben die Tote. Behutsam schob er ihr die Haare aus dem Gesicht. »Großer Gott«, sagte er. »Also …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.
Bertha kannte das auch schon. Clydes Reaktion überraschte sie nicht. Die meisten Gerichtsmediziner reagierten kühl und distanziert auf den Anblick eines Leichnams, Clyde nicht. Für ihn bestanden Menschen nicht in erster Linie aus Gewebe und unordentlicher Chemie. Sie hatte Clyde schon oft neben Toten weinen gesehen. Er behandelte jedes Opfer mit unglaublichem, manchmal schon fast lächerlichem Respekt. Bei Obduktionen war er so behutsam, als könnte er die Leiche wieder zum Leben erwecken. Er überbrachte den Familien der Opfer die
schreckliche Nachricht und nahm es fast ebenso schwer wie sie.
»Kannst du mir den ungefähren Todeszeitpunkt sagen?«, fragte sie.
»Ist nicht lange her«, sagte Clyde leise. »Die Leichenstarre der Haut ist noch im Anfangsstadium. Höchstens sechs Stunden, würde ich sagen. Ich messe die Lebertemperatur und …« Er bemerkte die unnatürliche Stellung der Finger. »Mein Gott«, sagte er.
Bertha wandte sich wieder an ihren Hilfssheriff. »Irgendwelche Papiere?«
»Nein.«
»Vielleicht ein Raubüberfall?«
»Zu brutal«, sagte Clyde. Er blickte auf. »Der Mörder wollte, dass sie leidet.«
Wieder schwiegen sie. Bertha sah, dass sich in Clydes Augen Tränen sammelten.
»Was noch?«, fragte sie.
Clyde sah schnell wieder nach unten. »Sie ist keine Obdachlose«, sagte er. »Gut gekleidet und ernährt.« Er sah in ihren Mund. »Anständige Füllungen.«
»Anzeichen für eine Vergewaltigung?«
»Sie ist angezogen«, sagte Clyde. »Aber, mein Gott, was hat man ihr nicht angetan? Hier ist kaum Blut. Das hier war bestimmt nicht der Tatort. Ich nehme an, jemand hat sie im Vorbeifahren abgeladen. Mehr kann ich erst sagen, wenn ich sie auf dem Untersuchungstisch habe.«
»Okay«, sagte Bertha. »Gehen wir die Vermisstenliste durch und schicken wir ihre Fingerabdrücke durch den Computer.«
Dann machte Sheriff Bertha Farrow sich auf den Weg.
13
Ich brauchte Katy nicht zurückzurufen.
Das Klingeln des Telefons schreckte mich auf. Ich hatte so tief und traumlos geschlafen, dass ich keine Chance hatte, langsam an die Oberfläche zurückzukehren. Gerade war ich noch in tiefster Dunkelheit versunken gewesen, im nächsten Moment saß ich mit pochendem Herzen im Bett. Ich sah auf den Digitalwecker. 6:58.
Ich stöhnte und streckte mich zum Telefon. Die Rufnummer wurde nicht angezeigt. Rufnummernübermittlung war eine nutzlose Einrichtung. Jeder, den man nicht sprechen wollte oder der einfach nur seine Telefonnummer nicht verbreiten wollte, bezahlte einfach dafür, dass sie blockiert wurde.
Für meine Ohren klang meine Stimme zu wach, als ich freundlich »Hallo?« zwitscherte.
»Äh, Will Klein?«
»Ja.«
»Hier ist Katy Miller.« Dann ergänzte sie: »Julies Schwester.«
»Hi, Katy«, sagte ich.
»Ich hab dir gestern Abend auf den Anrufbeantworter gesprochen.«
»Das hab ich erst um vier Uhr morgens abgehört.«
»Oh, dann hab ich dich wohl geweckt.«
»Macht nichts«, sagte ich.
Ihre Stimme klang traurig, jung und gezwungen. Ich erinnerte mich noch an ihre Geburt. Ich rechnete kurz nach. »Du müsstest demnächst deinen High-School-Abschluss machen.«
»Ich geh im Herbst aufs College.«
»Wohin?«
»Bowdoin. Ist ziemlich klein.«
»In Maine«, sagte ich. »Das kenn ich. Ein ausgezeichnetes College. Glückwunsch.«
»Danke.«
Ich richtete mich etwas weiter auf, versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, um das Schweigen zu
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