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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Ich entdeckte Sheilas Mutter. Sie stand in der Ecke und umklammerte mit beiden Händen ihre kleine Handtasche. Sie wirkte sehr ausgelaugt, als wäre alles Leben aus einer immer noch blutenden Wunde gesickert. Ich ging zu ihr.
    »Sind Sie Will?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Ich bin Edna Rogers.«
    Wir umarmten uns nicht, küssten uns nicht auf die Wange, wir schüttelten uns nicht einmal die Hände.
    »Wo können wir uns unterhalten?«, fragte sie.

    Ich ging mit ihr den Korridor entlang zur Treppe. Squares merkte, dass wir allein sein wollten, und führte die restlichen Trauernden in eine andere Richtung. Wir kamen an der neuen Krankenstation, der Psychiatrie und der Drogenabteilung vorbei. Viele der Ausreißerinnen sind junge oder werdende Mütter. Wir versuchen, ihnen auch medizinisch zu helfen. Viele andere haben ernste psychische Störungen. Auch ihnen versuchen wir zu helfen. Und ein ganz großer Teil hat alle möglichen Drogenprobleme. Auch da tun wir, was wir können.
    Wir entdeckten ein leeres Schlafzimmer und gingen hinein.
Ich schloss die Tür. Mrs Rogers wandte mir den Rücken zu. »Es war ein sehr schöner Gottesdienst«, sagte sie.
    Ich nickte.
    »Was aus Sheila geworden ist …« Sie brach den Satz mit einem Kopfschütteln ab. »Ich hatte ja keine Ahnung. Ich hätte es gerne gesehen. Wenn sie doch angerufen und mir davon erzählt hätte.«
    Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
    »Als sie noch lebte, hat Sheila mir nie Anlass gegeben, stolz auf sie zu sein.« Edna Rogers zog ein Taschentuch mit so viel Kraft aus ihrer Handtasche, als fürchtete sie, jemand hielte es von innen fest. Sie wischte sich einmal entschlossen über die Nase und steckte es wieder ein. »Ich weiß, das klingt hartherzig. Sie war ein schönes Kind. Und die ersten Jahre war sie auch eine gute Schülerin. Aber irgendwann …«, sie blickte zur Seite und zuckte die Achseln, »… hat sie sich dann verändert. Sie ist missmutig geworden. Hat sich über alles beklagt. Und sie war immer unglücklich. Sie hat mir Geld aus dem Portemonnaie gestohlen und ist immer wieder ausgerissen. Freunde hatte sie auch nicht. Jungs haben sie gelangweilt. Die Schule fand sie unerträglich. Das Leben in Mason auch. Und eines Tages ist sie wieder einmal von der Schule abgehauen und weggelaufen. Aber diesmal ist sie nicht mehr zurückgekommen.«
    Sie sah mich an, als erwartete sie eine Antwort.
    »Und Sie haben sie nie wieder gesehen?«, fragte ich.
    »Nein.«
    »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Was ist passiert?«
    »Meinen Sie, warum sie endgültig weggelaufen ist?«
    »Ja.«
    »Sie glauben bestimmt, dass es irgendein einschneidendes Ereignis gegeben haben muss, oder?« Sie sprach jetzt laut und herausfordernd.
»Dass ihr Vater sie missbraucht hat. Oder dass ich sie geschlagen habe. Sie suchen nach irgendwas, das das alles erklärt. So sieht’s doch aus. Alles muss seine Ordnung haben. Ursache und Wirkung. Aber so was gab es nicht. Wir waren bestimmt keine perfekten Eltern. Keineswegs. Aber es war auch nicht unsere Schuld.«
    »Ich wollte nicht darauf hinaus, dass …«
    »Ich weiß, worauf Sie hinauswollten.«
    Ihre Augen funkelten. Sie schürzte die Lippen und sah mich trotzig an. Ich versuchte, das Thema zu wechseln.
    »Hat Sheila Sie je angerufen?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Wie oft?«
    »Das letzte Mal vor drei Jahren.«
    Sie schwieg.
    Ich fragte: »Wo war sie, als sie angerufen hat?«
    »Das hat sie mir nicht gesagt.«
    »Was hat sie gesagt?«
    Dieses Mal ließ die Antwort etwas auf sich warten. Edna Rogers fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie schüttelte ein Kissen auf und zupfte ein Bettlaken zurecht. »Sheila hat vielleicht so einmal im halben Jahr angerufen. Normalerweise war sie betrunken oder auf irgendwelchen Drogen. Meistens war sie schrecklich aufgeregt. Sie hat geheult, ich hab geheult, und sie hat mir furchtbare Dinge an den Kopf geworfen.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Unten. Der Mann mit der tätowierten Stirn hat erzählt, Sie hätten sich kennen gelernt und sich sofort ineinander verliebt. Stimmt das?«
    »Ja.«
    Sie hob den Kopf und sah mich an. Ihre Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl als Lächeln durchgehen konnte. »Na«, sagte
sie, und ich hörte, wie sich ein Unterton in ihre Stimme mischte, »dann hat Sheila also mit ihrem Boss geschlafen.«
    Edna Rogers’ Lächeln wurde noch etwas breiter, und es war, als stünde mir ein ganz anderer Mensch gegenüber.
    »Sie hat

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