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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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mit unseren Tanzkameraden zu treffen.
    Wir waren – grob geschätzt – etwa 75 Jahre jünger als die anderen Paare im Club, doch die Alten hatten den Dreh raus. Ich versuchte mit ihnen mitzuhalten, hatte aber keine Chance. Ihre
Gegenwart verunsicherte mich. Sheila ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Manchmal ließ sie mich mitten im Tanz los und entfernte sich mit wiegenden Schritten von mir. Sie schloss die Augen. Ihr Gesicht strahlte, während sie vollkommen in Glückseligkeit versank.
    Ein älteres Paar, die Segals, die seit einer USO-Versammlung in den Vierzigern miteinander tanzten, verdient besondere Erwähnung. Sie waren hübsch und anmutig. Mr Segal trug immer ein weißes Halstuch. Mrs Segal war blau gekleidet und trug ein Perlenhalsband. Auf dem Parkett waren sie einfach zauberhaft. Sie bewegten sich wie Liebende. Wie eine einzige Person. In den Pausen unterhielten sie sich offen und freundlich mit uns. Doch sobald die Musik spielte, hatten sie nur noch Augen füreinander.
    In einer verschneiten Nacht im letzten Februar – wir dachten schon, das Tanzen würde ausfallen, es fand dann aber doch statt – kam Mr Segal allein. Er trug sein weißes Halstuch. Sein Anzug saß tadellos. Aber schon nach einem einzigen Blick in sein versteinertes Gesicht wussten wir, was passiert war. Sheila ergriff meine Hand. Eine Träne lief über ihre Wange. Als die Musik einsetzte, stand Mr Segal auf, trat ohne zu zögern aufs Parkett und tanzte allein. Er breitete die Arme aus und bewegte sich, als wäre seine Frau bei ihm. Er führte sie über die Tanzfläche und hielt ihren Geist so zärtlich in den Armen, dass keiner von uns wagte, ihn zu stören.
    In der folgenden Woche kam Mr Segal nicht. Wir hörten von den anderen, dass Mrs Segal den langen Kampf gegen den Krebs verloren hatte. Aber sie hatte bis zuletzt getanzt. Als die Musik zu spielen anfing, suchten wir unsere Partner und traten aufs Parkett. Und als ich Sheila an mich drückte, so unendlich eng an mich drückte, erkannte ich, dass die Segals, so traurig die Geschichte auch war, es besser hatten als alle anderen, die ich kannte.

    Hier versank ich in diesen Dämmertraum, wobei mir das allerdings die ganze Zeit bewusst war. Ich war im JCC-Tanzclub. Mr Segal war auch da. Dazu noch ein paar andere Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Sie hatten alle keine Partner. Als die Musik einsetzte, tanzten wir allein. Ich sah mich um. Mein Vater tanzte einen schwerfälligen Solo-Foxtrott. Er nickte mir zu.
    Ich sah den anderen beim Tanzen zu. Offenbar spürten alle die Gegenwart ihrer verstorbenen Partner. Sie sahen ihren Geistern in die Augen.
    Ich versuchte, ihrem Beispiel zu folgen, aber irgendetwas stimmte nicht. Ich sah nichts. Ich tanzte allein. Sheila kam nicht zu mir.
    In der Ferne klingelte ein Telefon. Vom Anrufbeantworter drang eine tiefe Stimme in meinen Traum. »Hier ist Lieutenant Daniels vom Livingston Police Department. Ich würde gern Will Klein sprechen.«
    Im Hintergrund hörte ich das gedämpfte Lachen einer jungen Frau. Ich öffnete die Augen, und der JCC-Tanzclub verschwand. Als ich nach dem Hörer griff, lachte die Frau noch einmal laut auf.
    Sie klang wie Katy Miller.
    »Ich ruf wohl doch lieber mal Ihre Eltern an«, sagte Lieutenant Daniels zu der lachenden Frau.
    »Nein.« Es war Katy. »Ich bin volljährig. Sie können mich nicht zwingen …«
    Ich nahm den Hörer ab. »Hallo, Will Klein am Apparat.«
    Lieutenant Daniels sagte: »Hi, Will. Hier spricht Tim Daniels. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, erinnerst du dich?«
    Tim Daniels. Er hatte an der Hess-Tankstelle gearbeitet. Er war immer im ölverschmierten Overall mit Namen auf der Brusttasche zur Schule gekommen. Jetzt hatte er es sogar zu einer richtigen Uniform gebracht.

    »Klar«, sagte ich, jetzt völlig verwirrt. »Wie geht’s denn so?«
    »Gut, danke.«
    »Du bist jetzt bei der Polizei?« Mir entging aber auch nichts.
    »Ja. Und ich wohne immer noch hier. Hab Betty Jo Stetson geheiratet. Wir haben zwei Töchter.«
    Ich versuchte, mich an Betty Jo zu erinnern, was mir jedoch nicht gelang. »Wow. Glückwunsch.«
    »Danke, Will.« Seine Stimme wurde ernst. »Ich, äh, hab das von deiner Mutter in der Tribune gelesen. Mein Beileid.«
    »Nett von dir. Danke«, sagte ich.
    Katy Miller fing wieder an zu lachen.
    »Hör zu, warum ich anrufe, na ja, Katy Miller kennst du doch, oder?«
    »Ja.«
    Er schwieg einen Moment lang. Wahrscheinlich fiel ihm gerade wieder ein, dass ich mit ihrer

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