Kein Öl, Moses
vormittag. Eine Ihrer Beamtinnen, ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz, also diese Dame bat mich, meine Adresse zurückzulassen -«
»Nein, nein«, unterbrach mich Alissa. »Das war nicht meine Abteilung. Haben Sie schon mit dem Sekretariat gesprochen?«
»Ja. Mit einem Herrn.«
»Mit Stern?«
»Möglich. Ich konnte das durchs Telefon nicht erkennen.«
»Sicherlich war es Stern. Ich verbinde.«
»Guten Abend«, sagte Stern. »Hier Stern.«
»Habe ich vorher mit Ihnen gesprochen, Herr Stern?«
»Worüber?«
»Über die Visitenkarte aus meiner Brieftasche, gestern vormittag, und über die verlorenen Notizblätter mit den Telefonnummern.«
»Nein, das muß jemand anderes gewesen sein. Um was handelt es sich?«
»Es handelt sich um folgendes. Gestern vormittag war ich bei Ihnen, das heißt am Buchungsschalter, wegen einer Buchung. Die Beamtin, eine Dame mit sehr jungem Gesicht und grauem Haar in einem Pferdeschwanz, wollte meine Adresse haben -«
»Entschuldigen Sie, hier herrscht ein solcher Lärm, daß ich Sie nicht hören kann. Bitte bleiben Sie am Apparat. Ich melde mich aus einem anderen Zimmer.«
Tatsächlich meldete er sich etwas später aus einem anderen Zimmer:
»Hallo? Ja, jetzt ist es besser. Also wenn ich richtig verstanden habe, dann waren Sie gestern bei uns...«
»Stimmt. Gestern vormittag. Und ich habe mit einer Ihrer Beamtinnen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und als ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm, müssen einige sehr wichtige Notizblätter herausgefallen sein -«
»Das kann vorkommen«, tröstete mich Stern. »Ich nehme an, daß diese Blätter irgendwo bei uns liegen. Lassen Sie mich doch einmal herumfragen... «
Ich hörte seine gedämpfte Stimme, die der Belegschaft im Nebenraum bekanntgab, daß gestern vormittag jemand hier gewesen sei und mit einem der Mädchen gesprochen hätte, einem Mädchen mit jungem Gesicht und grauem Ponyschwanz, wahrscheinlich Stella, er wollte ihr seine Adresse geben und hatte sein Taschenbuch herausgenommen und bei dieser Gelegenheit sein Notizbuch verloren oder die Blätter mit den wichtigen Telefonnummern...
»Augenblick«, hörte ich eine andere Stimme rufen. »Ich glaube, der Portier hat etwas davon gesagt, daß er ein Notizbuch gefunden hat.«
Es dauerte nicht lange, und ich war mit dem Portier verbunden.
»Waren es rechteckige Blätter, blau liniert?« fragte er.
»Richtig. Und es standen Telefonnummern drauf.«
»Ich habe die Blätter heute an Ihre Adresse geschickt. Sie müßten morgen in der Post sein.«
»Danke. Danke vielmals.«
»Was war denn eigentlich los?«
»Nichts Besonderes. Ich hatte vorgestern in Ihrem Büro mit einer Ihrer Damen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und als ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm, müssen diese Papiere herausgefallen sein, mit Telefonnummern, die ich sehr dringend brauche -«
»Na, Hauptsache, daß sich die Blätter gefunden haben«, sagte der Portier.
»Ja, wirklich. Das ist die Hauptsache. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte der Portier.
Mit den Frauen geht es aufwärts
In der letzten Zeit mußte ich an mir ein beunruhigendes physiologisches Phänomen feststellen: ich schrumpfe. An sich ist das bei Personen von intellektueller Prägung nichts Außergewöhnliches, zumal wenn sie älter sind als vierzig Jahre. Ich jedoch verliere in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß an Höhe. Seit meiner Erschaffung galt ich immer als hochgewachsener Mann und konnte mit den meisten meiner Mitmenschen von oben herab verkehren - jetzt verringere ich mich mit einer Schrumpfungsrate von 1,3 mm im Monat. Bis vor kurzem wußte ich zum Beispiel mit absoluter Sicherheit, daß ich, bequem in meinem Stuhle lümmelnd, die Frisur der besten Ehefrau von allen direkt in Augenhöhe hatte, wenn sie vor mir stand. Im Januar dieses Jahres traf mein Blick im Sitzen nur noch auf ihre Stirne, im März standen wir einander Aug in Aug gegenüber, und seit April reiche ich ihr bestenfalls bis zum Kinn. Wenn das so weitergeht, werde ich ihr demnächst wie ein ungezogenes Kind unter den Armen durchschlüpfen. Das ist ein peinlicher Gedanke,
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