Kein Opfer ist vergessen
Mutter.
»Mach dir nichts draus«, sagte sie und las die Glasscherben auf. Die Ränder waren gezackt und blutverschmiert. Auf dem Mund meiner Mutter lag dieses sorgenvolle Lächeln. In ihren dunklen Augen erkannte ich mein Spiegelbild.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Mir geht es gut, Ma.«
»Du bist zu dünn.«
»Das Trimester hat in dieser Woche angefangen. Ich studiere an der Medill.«
»Ist es denn schon Herbst?«
»Es ist das Sommerquartal, Ma.«
»Wie schön.« Sie setzte sich zu mir. Erinnerungsfäden schwebten herbei und waberten um uns herum. Sie krümmte den Zeigefinger und winkte mich näher zu sich heran. Ich bewegte mich wie von Marionettenschnüren gezogen.
»Ich hätte dich beschützen müssen, Ian. Euch beide.«
Irgendwo im Haus rüttelte der Wind an den Fenstern, als wolle er protestieren.
»Du hast dein Möglichstes getan.«
»Ich hätte mehr tun müssen.«
Ihre Stimme löste sich auf. Ich beugte mich vor, um die Worte aufzufangen, doch sie zerfielen in meinen Händen. Und dann war ich im Flur oben vor ihrem Schlafzimmer und drückte mit der flachen Hand gegen die verschlossene Tür. Sie stand auf der anderen Seite, fuhr durch das warme Holz mit den Fingern an meinen entlang, lauschte dem Atem, der meine Brust hob und senkte, und zählte jeden Atemzug als ihren eigenen.
»Ma?« Meine Stimme war die eines Jungen, der an der Brust seiner Mutter heißes Entsetzen verspürt. Die Tür öffnete sich knarrend, und sie stand da, von schwarzem Wind umweht. Eine Hand lag auf einem kleinen weißen Sarg.
Mit einem Ruck wurde ich wach. Der Tag war fast vergangen, die Häuser auf der anderen Straßenseite standen im blutroten Licht der untergehenden Sonne. Der Geruch von Rauch durchzog das Haus. Ich sprang auf und stürzte in die Küche. Die Suppe war verkocht, der Boden des Topfes schwarz gebrannt. Ich riss das Küchenfenster auf und versuchte, den Topf so gut es ging sauber zu schrubben. Dann setzte ich mich wieder an den Küchentisch und massierte meine Schläfen. Hin und wieder hatte ich solche Erlebnisse. Plötzlich war sie da und nahm den Faden eines Gesprächs auf, das wir nie geführt hatten. Träume wie Granatsplitter unter der Haut, deren Eintrittswunden nach Jahren wieder aufbrachen. Als es an der Tür läutete, fuhr ich zusammen und wusste nicht, wann ich dieses Geräusch zum letzten Mal gehört hatte. Ich versteckte den Brief meiner Mutter, lief zur Eingangstür und zog sie auf. Vor mir stand Sarah Gold. Zuerst der Besuch meiner toten Mutter und jetzt Sarah.
»Ich dachte, ich komme mal vorbei«, begann sie. »Um nachzusehen, wie es dir geht.«
»Das ist nett. Ich bin gerade wach geworden.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Schon gut. Komm rein.«
Sarah Gold betrat mein Haus. Schon an der Uni wirkte sie überlebensgroß, doch in meinem Wohnzimmer drohte ihr Lächeln die Tapete an den Wänden zu schmelzen. Sie setzte sich aufs Sofa und sah sich um. Ich ließ mich ihr gegenüber nieder.
»Entschuldige den Geruch.« Ich wedelte die letzten Rauchfäden fort. Es roch noch immer nach verbranntem Metall. »Ich hab was anbrennen lassen.«
»Lebst du allein?«, fragte sie.
»Mehr oder weniger. Und du?«
»Ich habe eine Wohnung im Norden der Stadt. Du bist ein bisschen neben der Spur, oder?«
Ich riss mich zusammen. »Ich bin okay. Nur noch halb im Schlaf.«
Sarah ließ ihren Blick noch einmal durchs Zimmer wandern. Ich verspürte den Drang, unser Schweigen zu durchbrechen.
»Ich bin hier aufgewachsen«, sagte ich. »Irgendwie seltsam, oder? Ein Typ, der noch immer da wohnt, wo er groß geworden ist.«
»Ich habe nichts gesagt.« Ihre Stimme war weicher geworden, ihr Lächeln einladend.
»Meine Mutter hat hier gelebt. Wir beide haben hier gewohnt.«
»Oh.«
»Letztes Jahr ist sie gestorben.«
Sarah beugte sich vor und berührte meinen Arm. »Das tut mir sehr leid, Ian.«
Ich bekam einen Kloß im Hals, und mit einem Mal brannten Tränen in meinen Augen. Bis auf die Leichenbestatter hatte mir kaum jemand sein Beileid ausgesprochen. Aber Sarah hatte es getan. Ich war überwältigt.
»Danke«, krächzte ich.
»Lebt dein Vater noch?«
»Er ist schon vor langer Zeit gestorben.«
»Du musst nicht darüber reden, wenn –«
Ich wischte ihre Sorge mit einer Geste fort. »Sie litt unter den ersten Anzeichen einer Demenz. Mal war sie da, dann wieder weg. Bei der Beerdigung haben alle gesagt, es sei ein Segen gewesen.«
Wir schwiegen.
»Und das geschah alles während deines
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