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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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Grundstudiums?«
    »Ja, aber es war kein Problem.«
    Es war sehr wohl ein Problem. Wenn ich abends nach Hause kam, war die Krankenschwester da, die wir uns nicht leisten konnten, und meine Mutter an Geräte angeschlossen und kaum bei Bewusstsein. Wie konnte so etwas kein Problem sein? Wäre es für jeden gewesen, ganz gleich, wie alt er war, aber erst recht für einen Achtzehnjährigen, der gerade mit dem College begonnen hatte. Für einen Moment ließ ich meinen Zorn darüber zu und die Trauer, die ihn durchzog. Dann setzten meine Schuldgefühle ein, und ich begann das Ganze zu verdrängen.
    »Es tut mir unendlich leid, Ian.«
    »Ist schon in Ordnung, mach dir keine Gedanken. Aber jetzt weißt du wenigstens, weshalb ich hier noch wohne.« Ich stand auf. »Möchtest du etwas trinken?«
    »Nein, danke.« Vor dem Haus fuhr ein Wagen vorbei. Sarah schien ihm durch die Wände hindurch mit dem Blick zu folgen. »Oder doch. Vielleicht ein Glas Wasser.«
    Ich holte ihr ein Glas Wasser mit Eiswürfeln und mir eine Cola.
    »Möchtest du über den Tag heute reden?«, fragte sie.
    »Zuerst bist du an der Reihe. Wie war die Materialsichtung?«
    »Im Grunde ziemlich langweilig.«
    »Wirklich?« Ich trank einen Schluck und merkte, wie sich die angespannte Sprungfeder in mir ein wenig lockerte. Langweilig war genau das, was ich jetzt brauchte.
    »Es gab eine Akte über Harrison«, erzählte Sarah. »Memos, Plädoyers, Prozessprotokolle, Unterlagen, die als Beweismaterial aufgenommen worden waren.«
    »Und?«
    »Komplett redigiert, die wesentlichen Informationen allesamt unkenntlich gemacht.«
    »Ist das etwas Ungewöhnliches?«
    »Ich habe eine Angestellte danach gefragt, aber die wusste es auch nicht.« Sarah zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und holte einen Packen Unterlagen heraus. »Ein paar Sachen habe ich kopiert, aber ich glaube nicht, dass viel dabei herauskommt.«
    »Hast du die Kopien Havens gezeigt?«
    Sie nickte.
    »Und was hat er gesagt?«
    »Dass er dabei sei, sich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren.«
    »Wie schön für ihn.« Ich blätterte durch die Seiten. Sarah hatte recht. Es sah nicht vielversprechend aus.
    »Vielleicht ist das alles Zeitverschwendung«, sagte sie.
    Ich schaute auf. »Der Fall Harrison?«
    »Ja.«
    »Der Meinung bin ich nicht.«
    »Warum?«
    »Erstens, die Cops haben mich angehalten, um an unsere Kopien zu kommen. Das bedeutet, irgendwer hat Angst. Und zweitens könnte es einen Weg geben, sie uns wiederzubeschaffen.«
    »Wie?«
    »Warte mal.« Ich ging in die Küche und kam mit Block und Stift zurück.
    »Was willst du denn aufschreiben?«, fragte Sarah.
    »Im Moment noch gar nichts. Wir sitzen hier einfach und sagen kein Wort.«
    Sarahs Wangen röteten sich, und um ihren Mund spielte ein kleines Lächeln. »Keiner darf was sagen?«
    »Absolut nichts.«
    »Und was sollen wir dabei machen?«
    » Wir machen gar nichts. Ich entspanne mich, und du sitzt einfach da.«
    Ich setzte mich in den alten Ledersessel mit der verstellbaren Rückenlehne und schloss die Augen. Mein Körper erschlaffte, mein Herzschlag verlangsamte sich. Ich zählte zweiundvierzig Herzschläge pro Minute. Dann siebenunddreißig. Irgendwo rutschte Sarah auf ihrem Sitz herum, aber ich war schon dabei zu versinken. Fünfunddreißig Schläge. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem. Fleisch und Knochen lösten sich auf, bis nur noch der Kern vorhanden war. Das Pochen meines Herzens. Das Auf und Ab meiner Lunge. Unter meinen Lidern flackerte der zweite Stock des Asservatenlagers auf und formte sich zu einem Bild. Ich sah alles wie durch einen Schleier und ließ es auf mich wirken. Auf einem wackeligen Holztisch lagen die Akten des Falls Wingate. Havens stand an meiner Seite und kopierte. Ich schob den Schleier zur Seite. Die Farben flammten auf und schmerzten in meinen Augen. Ich wich zurück, wartete einen Moment und versuchte es noch einmal. Langsam wurden die Bilder schärfer. Auf dem Tisch lagen die Wingate-Akten. Gedruckte Zeilen. Zeichnungen. Handschriftliche Notizen und Zahlen. Ich sah jede einzelne Seite und doch auch alles zusammen. Meine Kopfhaut prickelte. Meine Finger juckten. Die Bilder huschten vorüber und verschwammen. Dann gab es nur noch Schwere. Alles war heruntergeladen worden.
    Ich blinzelte und öffnete die Augen. Sarah starrte mich an.
    »Wie lange hat es gedauert?«, fragte ich.
    Sie schaute auf ihr Handy. »So um die zehn Minuten.«
    Ich griff nach dem Stift und begann zu schreiben. Sarah

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