Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
Vom Netzwerk:
Gesicht. »Schau sie dir selbst an.« Ich reichte ihm das erste Foto. Darauf saß Skylar Wingate auf einer einfachen Pritsche, die Hände übereinandergelegt im Schoß. Sein Haar war nass und aus der Stirn nach hinten gekämmt. Sein Blick schien am Rand des Fotos nach einem vertrauten Gesicht zu suchen, nach jemandem, der ihn nach Hause brachte.
    »Der Typ hat ihn fotografiert«, sagte ich. »Bevor er ihn umgebracht hat.«
    Ich hielt Havens das nächste Foto hin. Wir rückten enger zusammen. Auf diesem Foto lag der Zehnjährige auf der Pritsche nackt auf dem Bauch, mit gefesselten Händen und Füßen. Mit verdrehtem Kopf sah er in die Kamera. Diesmal war der grüne Strick zu sehen, der um seinen Hals festgezurrt worden war. Die losen Enden wurden vom unteren Rand des Fotos abgeschnitten. Das Gesicht des Jungen wirkte ruhig. Die Augen waren zwar noch vor Furcht geweitet, aber er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Wie ein ängstliches Lamm, das auf die Schlachtbank wartet. Bei den nächsten drei Fotos handelte es sich um Nahaufnahmen, die ich mit dem Blick lediglich streifte. Hervortretende Augen, als die Schlinge noch fester gezogen wurde. Ein geöffneter Mund. Ich hörte den Jungen röcheln und sah Havens an. Er wirkte meilenweit entfernt. Ich schob die Fotos fort.
    »Alles okay?«, fragte Havens.
    Ich nickte.
    »Was für ein abartiger Wichser.« Havens ordnete die Fotos in der Reihenfolge an, in der sie vermutlich entstanden waren. »Er muss das Seil irgendwo oben befestigt und den Jungen mit der Schlinge nach und nach hochgezogen haben. Auf diese Weise konnte er Fotos machen, während der Junge kurz vorm Ersticken war.«
    »Aber warum?«
    »Aus demselben Grund, weshalb er die Leiche vergraben hat, statt sie im Fluss zu lassen. Er wollte den Tatort aufsuchen können, um sich am Anblick seines Opfers zu weiden. Genau wie bei den Fotos.«
    Ich nahm die Fotos und hielt sie ins Licht, bevor ich sie zurück in den Umschlag steckte. Havens arbeitete wieder am Kopierer.
    »Wie lange brauchst du noch?«, fragte ich mit belegter Stimme.
    »Für die Kopien? Eine halbe Stunde. Vielleicht weniger. Warum? Hast du es eilig?«
    »Eigentlich nicht.« In Wahrheit wollte ich nichts wie raus aus dieser verstauben Grabkammer – weg von den Hämmern und Stricken, den Autopsie-Berichten, in denen die Gewichte von Milzen, Herzen und Lebern standen, und den grauen Kartons voller Beweismaterial, die sich ringsum wie Särge türmten.
    »Wenn wir fertig sind, muss ich in meine Wohnung zurück«, sagte Havens.
    »Okay.«
    »Kannst du den Kram in deinem Wagen mitnehmen?« Er zeigte auf den Stapel seiner Kopien.
    »Warum nimmst du ihn nicht mit?«
    Havens hörte auf zu kopieren. »Was ist eigentlich mit dir los?«
    »Nichts. Ich bin nur nicht scharf darauf, noch länger hierzubleiben.«
    »Ach.« Havens sah sich um, als fragte er sich, wie man es hier nicht schön finden konnte.
    »Gut, ich nehme alles mit«, sagte ich. »Leg einfach einen Zahn zu, ja?«
    Es dauerte eine gute Stunde, bis wir schließlich fertig waren und das Gebäude verließen. Draußen im Sonnenschein schüttelte ich meinen Ekel vor dem Asservatenlager ab und dachte an das, was wir bei uns hatten. Ich wusste zwar nicht genau, welche Fragen ich hatte, doch ein eigenartiges Gefühl sagte mir, die Antworten könnten irgendwo in den Kopien stecken, die wir in meinen Wagen luden. Wie sich herausstellen sollte, gab es jemanden, der mein Gefühl teilte und es alles andere als lustig fand.

DREIZEHN
    Kurz vor der Kreuzung Roosevelt und Canal entdeckte ich das Blaulicht in meinem Rückspiegel. Gleich darauf ertönte eine Stimme über Megaphon.
    »Biegen Sie in die Canal ab, Sir.«
    Ich bog ab und fuhr einen Block weiter. Auf der Hälfte des nächsten fand ich einen freien Parkplatz und hielt an, unweit der Pacific Garden Mission. Die schwarze Limousine der Zivilstreife hatte auf der kurzen Strecke an meiner Stoßstange geklebt. Vor der Mission hingen ein paar Penner herum. Sonst gab es nur noch die Cops und mich. Aus der Limousine stieg ein Weißer mittleren Alters, der einen glänzenden Anzug trug. Sein Partner, schwarz und etwas jünger, blieb im Wagen. Der Typ im glänzenden Anzug trug eine Sonnenbrille, hatte dicke Unterarme und schwere Pranken. Als er näher kam, erkannte ich schütteres rotes Haar und graue Koteletten. Dann stand er an meiner Seite, zeigte mir kurz seine Dienstmarke mit dem silbernen Stern eines Detective und steckte sie wieder in die

Weitere Kostenlose Bücher