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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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außerhalb der Uni. Selbst jetzt, wenn wir uns unterhalten.«
    Ich schwenkte die Flasche vor ihrer Nase. »Ich glaube, du hast genug.«
    »Nein, ich meine es ernst.«
    »Ich auch.«
    »Vier Jahre Uni, und keiner wusste etwas über dich. Oder nur ganz wenig.«
    »Und du glaubst, das war mein Fehler?«
    »Das habe ich nicht gesagt.« Sarah malte mit einem großen Zeh in den Sand und senkte den Blick. »Ist es wegen deiner Mom?« Sie schaute hoch. »Tut mir leid. Du willst nicht, dass ich das anspreche, oder?«
    »Wenn du der Ansicht bist, dann sprich es auch nicht an. Und wenn du es schon angesprochen hast, dann entschuldige dich hinterher nicht dafür.«
    »Ian –«
    »Denkst du, ich habe erst angefangen zu existieren, als du mich plötzlich wahrgenommen hast?«
    »So habe ich das nicht gemeint.«
    Ich wusste, wie sie es gemeint hatte, und hasste mich, weil ich dabei war, uns den Abend zu verderben.
    »Mach dir deswegen keine Gedanken.« Ich wischte mir über den Mund. Sarah sah mich aufmerksam an.
    »Wirklich, Sarah. Der Zustand meiner Mutter war eine Sache für sich. Und ja, vielleicht war ich deshalb so in mich gekehrt. Aber das ist kein Grund zum Rumjammern.«
    »Manchmal tut es aber gut, es auszusprechen.«
    »Das weiß ich.« Ich wollte den Schnaps wieder spüren und nahm den nächsten Schluck. »Komm, wir reden über was anderes.«
    »Über was?«
    »Ist mir egal.«
    »Ian.«
    »Alles ist okay, Sarah. Wirklich.«
    Wir schwiegen und ließen die Nacht ringsum niedersinken. Wir saßen nicht weit vom Wasser entfernt, doch der Wind trocknete die feuchte Luft.
    »Soll ich noch was sagen?«, fragte sie.
    »Nur zu.«
    »Ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben. Auch wenn es gute vier Jahre gedauert hat.« Ihr Lächeln erhellte die Dunkelheit.
    »Ich auch.«
    »Gut.« Sie neigte sich zu mir und küsste mich sanft und wie selbstverständlich auf den Mund. Sie schmeckte nach Zitrone und Sand. Dann sprang sie auf.
    »Wohin willst du?«, erkundigte ich mich.
    »Schwimmen.«
    »Nicht im Ernst.«
    Sie wandte sich um und lief mit leichten Schritten zum Wasser. Auf dem Weg dorthin warf sie ihre Kleidung ab. Ich stand auf und zog meine Klamotten aus. Alles andere wäre ja auch idiotisch gewesen.

SECHZEHN
    Der Mann mit den gelben Augen saß hundert Schritte südlich von ihnen am Strand. Die beiden bemerkten ihn nicht, für sie war er wie meilenweit entfernt. Er konnte sehen, dass sie tranken, und sich alles Weitere denken. Es interessierte ihn nicht. Es sei denn, er entschied sich, sie zu töten. Das würde alles ändern.
    Das Mädchen stand auf, lief am Wasser entlang auf ihn zu. Er sah zu, wie sie ihr T-Shirt abstreifte. Der Junge saß wie ein Depp im Sand, bis er sich endlich aufraffte und gekrümmt in die Brandung hoppelte. In dem Moment begriff der Gelbäugige, was er im Wald gespürt hatte. Ergab ja auch Sinn. Er kroch voran, glitt wie ein Schatten in den See, holte Luft und verschwand in einer Welle. Unter Wasser kraulte er auf sie zu, tauchte in sicherer Entfernung auf, trat Wasser und lauschte.

SIEBZEHN
    Als sie auf die Brandung traf, konnte ich sie gerade noch erkennen. Ihr Körper bog sich vor und durchschnitt eine aufragende Welle, die über ihr zusammenschlug. Sie kam wieder hoch, schwamm mit kräftigen Zügen und glitt über die nächste Welle hinweg. Sarah Gold trug noch BH und Höschen, der Rest ihrer Kleidung lag am Strand. Ein Teil von mir war enttäuscht, ein anderer erleichtert. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und testete die Wassertemperatur.
    Es war gerade mal Ende Juni. Das bedeutete, dass der See noch nicht viel Zeit gehabt hatte, sich aufzuwärmen. Nachts zu schwimmen, kam eigentlich nicht infrage. Aber Sarah sah das offenbar anders. Ich tauchte einen Fuß ins Wasser und schnappte nach Luft. Sie war vielleicht sechzig Meter hinausgeschwommen und drehte sich nach mir um. Ich sagte mir, scheiß auf die Kälte, und rannte in den See, bis das Wasser meine Taille umspülte. Meine Beine konnte ich nicht spüren, aber das war okay. Sarah stemmte sich hoch und winkte. Ich holte tief Luft und durchschwamm eine Welle. Auf der anderen Seite wartete Sarah auf mich.
    »Das macht einen wieder nüchtern.« Sie warf sich das nasse Haar aus dem Gesicht und steckte es hinter die Ohren.
    »Es ist eisig.«
    Sie tauchte in eine Welle, strampelte mit den Beinen und kam wieder hervor. »Wenn du dich bewegst, wird dir warm.«
    Ich war kein guter Schwimmer, aber ich folgte ihr trotzdem. Wahrscheinlich wäre ich

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