Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
Vom Netzwerk:
wollte etwas sagen, aber ich bremste sie. Eine halbe Stunde später war meine Arbeit beendet. Sarah ging die zehn Seiten durch, die ich vollgeschmiert hatte. Es war nicht perfekt, aber ich schätzte, sechzig Prozent von dem, was die Cops konfisziert hatten, war wiederhergestellt.
    »Du hast ein fotografisches Gedächtnis?« Sarah sah mich an, als wäre ich radioaktiv.
    »Schön wär’s. Ich habe das, was man ein hoch selektives Kurzzeitgedächtnis nennt, in dem eidetische Komponenten enthalten sind. Wenn ich mich konzentriere und mir etwas bildlich vorstelle, kann ich mich für kurze Zeit sehr klar an bestimmte Dinge erinnern. Danach sind sie weg und kommen auch nicht mehr wieder. Mit Zahlen funktioniert es auch. Im Geist kann ich Ziffern oder Gleichungen, die ich gesehen habe, wieder zusammensetzen.«
    »Du bist wie Will. In Good Will Hunting .«
    »Wohl kaum.«
    Sarah rückte näher und betrachtete die Seiten. »Namen, Telefonnummern. Selbst einige der Autopsie-Skizzen hast du geschafft.«
    Ich ging ins Bad und schluckte zwei Aspirin. Ganz gleich, welche Art von Gedächtnis ich hatte, solche Übungen bescherten mir jedes Mal Kopfschmerzen. Diesmal schienen sie ganz besonders heftig zu werden. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, tippte Sarah gerade wie eine Wilde auf ihrem iPhone herum.
    »Was machst du da?«
    Sie drückte auf »Senden« und sah mich an. »Ich habe Jake geschrieben, dass wir die Unterlagen aus dem Asservatenlager wieder haben. Und dass in unserem Seminar ein Genie existiert.«
    »Ich habe nur sechzig Prozent gerettet.«
    »Das reicht doch. Außerdem wird ihn das mit dem ›Genie‹ fertigmachen. Was meinst du, sollen wir alles noch mal durchgehen? Es vielleicht ein bisschen ausarbeiten?«
    »Warum nicht.«
    In den nächsten drei Stunden fabrizierten wir aus meinen hastig hingeworfenen Zeilen einen zusammenhängenden Text. Anschließend lehnten wir uns zurück und lasen ihn noch einmal durch. Die ersten Seiten enthielten überwiegend Schilderungen des Tatorts und Kommentare der Ermittler über Beweisstücke und eingegangene Hinweise. Auch aus dem Bericht über Harrisons Festnahme waren mir wieder Details eingefallen, und ich hatte mich an die Grundzüge eines Memos aus den Akten der Staatsanwaltschaft von Cook County erinnert. Letzteres fasste die Stationen des Prozesses zusammen. Soweit ich das beurteilen konnte, war er ruck-zuck über die Bühne gewesen.
    Die Anklage beruhte auf der Aussage eines Augenzeugen namens Bobby Atkinson. An dem Nachmittag, als Skylar verschwand, hatte er um 16 : 30 Uhr, nahe der Peterson Avenue, einen Mann und einen Jungen gesehen. Der Mann passte zu der Beschreibung von James Harrison, trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Laut Atkinson sah der Junge wie Skylar aus. Darüber hinaus führte die Anklage einen Blutfleck auf Harrisons Jeans an, der der Blutgruppe des Jungen entsprach. Im Jahr 1998 waren DNA -Analysen im Cook County machbar, doch weder die Anklage noch die Verteidigung forderte einen solchen Test an. Harrison weigerte sich, zu seiner Verteidigung auszusagen, und besaß kein stichhaltiges Alibi. Das gesamte Verfahren dauerte anderthalb Tage. Die Geschworenen brauchten für ihre Beratung weniger als eine Stunde. Ich ließ meine Notizen auf den Sofatisch fallen.
    »Ganz gleich, ob er schuldig war oder nicht, dieser Mann hat keinen anständigen Prozess bekommen.« Ich rieb meine Lider. »Wie spät ist es?«
    »Kurz nach elf. Du bist müde, oder?«
    »Es geht.«
    »Wie wär’s, wenn wir losziehen und noch was trinken gehen.«
    »Im Nevins?«
    »Ich weiß was Besseres«, antworte Sarah lächelnd.

FÜNFZEHN
    Der Wodka war kalt, die Flasche wanderte zwischen uns hin und her.
    »Nachts finde ich es hier wundervoll.« Sarah bohrte ihre Füße in den Sand. Wir saßen auf einem leeren Strand, nicht weit von Fisk Hall entfernt. Der Wind zeichnete weiße Schaumkronen in den See. Wellen schwappten seufzend vor und zogen sich flüsternd zurück.
    »Kommst du oft her?«, fragte ich.
    »Ab und zu. Wenn es wie jetzt ist.« Sie streckte die Hand aus, ich reichte ihr den Absolut, der einsam und kalt in meinem Kühlschrank gelegen hatte. Sarah trank einen Schluck und gab mir die Flasche zurück.
    »Warst du schon mal verliebt, Ian?«
    Mein Versuch, schief zu grinsen, haute nicht ganz hin.
    »Wie hieß sie?«
    »Spielt keine Rolle.«
    »Warum hältst du immer alles zurück?«
    »Was soll das heißen?«
    »Na, du verschließt dich. Oder einen Teil von dir. In der Uni und

Weitere Kostenlose Bücher