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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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Zementboden gelöst und steckte die Hand in das freigelegte, dunkle Loch. Es war leer. Der Mann mit den gelben Augen fluchte. Als er hörte, dass draußen ein Wagen quietschend bremste, setzte er das Zementstück in die Lücke zurück und fegte mit der Hand Dreck und Staub über die Fugen. Kurz darauf schlüpfte er in den Garten hinter dem Haus und kehrte in einem Bogen zur Straße zurück.
    Der Junge war zurückgekommen und aus dem Audi gestiegen. Am Steuer saß ein Mädchen – dasselbe, das mit am See gewesen war. Der Junge hielt sich wie ein Mann, war aber keiner. Noch nicht. Vielleicht würde auch nie einer aus ihm werden. Das Mädchen fuhr los. Er merkte sich das Kennzeichen und sah zu, wie der Junge zur Eingangstür lief. Als dieser sich umdrehte, war er bereits verschwunden.

VIERUNDZWANZIG
    Ich weiß nicht, wie lange ich auf die aufgebrochene Tür starrte, ehe ich mich umdrehte und einen Blick über den Fußweg auf die Straße warf. Sarah war schon weg, der Bürgersteig leer. Ich dachte kurz darüber nach, die Polizei zu rufen, überlegte es mir dann aber anders und betrat das Haus. Im Flur holte ich einen Baseball-Schläger aus dem Schrank und ging ins Wohnzimmer. Das Zimmer war nicht auseinandergenommen worden, nur so viele Dinge verrückt, dass ich wusste, sie waren hier gewesen. In der Küche wirkte alles unverändert. Ich nahm die Treppe nach oben. Das Schlafzimmer meiner Mutter lag auf dem halben Flur. Seit ihrem Tod hatte ich es nicht mehr betreten. Ich drückte die Tür auf. Im Schrank hingen ihre Kleidungsstücke noch auf Bügeln, die Schuhe standen aufgereiht auf dem Boden. Auf der Kommode lagen ihre Haarbürste, Fotos von mir und ihr Schmuck. Mitten auf ihrem Bett entdeckte ich das karierte Band einer Mütze der Chicagoer Polizei. Ich nahm es auf, setzte mich und fragte mich, wie lange sie hier gewesen waren und was sie berührt hatten. Ich kehrte nach unten zurück. Die Tür zum Keller war angelehnt. Unten im Keller hockte ich mich an das versiegelte Loch im Boden. In dem glattgestrichenen Zement waren frische Kratzspuren zu erkennen. Ich stand auf und zog an einer Wand oben ein Stück Rigips heraus. Dahinter verbargen sich eine Kamera mit einer stecknadelkopfgroßen Linse und ein tragbares Aufnahmegerät. Ich löste die Speicherkarte aus der Kamera und steckte sie in meine Tasche. Als ich wieder oben war, rief ich einen Schlosser an. Dann wählte ich die nächste Nummer.
    —
    Smitty und ich trafen uns auf dem unbefestigten Parkplatz hinter dem Mustard’s.
    »Was geht da bei dir ab, Danny?«
    »Nichts, Smitty.«
    Er beschirmte seine Augen mit der Hand und blinzelte in die Sonne. »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Jemand hat deine Haustür eingetreten, Danny. Warum sagst du den Cops nicht Bescheid?«
    »Das lass ich lieber. Kann ich ein paar Sachen abholen?«
    Smitty sah mich scharf an, doch dann führte er mich im Mustard’s in einen kleinen Vorraum der Küche. Dort bückte er sich, zog an dem Griff, der in die Dielen gedübelt war, und öffnete eine Bodenluke zu einer kleinen Treppe. Er stieg sie hinunter, ich folgte ihm.
    »Pass auf deinen Kopf auf«, sagte er und knipste eine Deckenlampe an. Der Keller war vielleicht vier Quadratmeter groß, die Decke nicht mal zwei Meter hoch. Havens’ Kartons standen übereinander an einer Wand, zwischen Kisten mit Frittier-Öl und dem begehbaren Kühlschrank.
    »Willst du alles mitnehmen?«, fragte Smitty.
    »Nein, nur ein paar Sachen.«
    »Mach das Licht aus, wenn du fertig bist.«
    Smitty verschwand nach oben. Ich war mit den V i CAP -Unterlagen allein. Alles schien noch so, wie ich es hinterlassen hatte. Ich sortierte die beiden Fotos der Bisswunden heraus und mehrere einschlägige Dokumente. Dann löschte ich das Licht, ging wieder nach oben und bestellte ein Hotdog mit Pommes. Ich aß draußen im Biergarten und sah dem vorbeirauschenden Straßenverkehr zu. Das Band der Polizeimütze lag vor mir auf dem Tisch, daneben die Fotos und die Speicherkarte. Wir hatten den 3. Juli. Ich wurde verfolgt und hatte keine Ahnung, warum.

FÜNFUNDZWANZIG
    Ein Wärter öffnete mir das Tor zum Calvary-Friedhof und winkte mich hinein. Ich winkte zurück und stellte meinen Wagen auf dem leeren Parkplatz ab. Der 4. Juli hatte mit verhangenem Himmel begonnen, vom See wehten Regenböen heran. Ich schloss den Wagen ab und spazierte an den Gräbern entlang. Calvary war der älteste katholische Friedhof, den es in der Region Chicago noch gab, und ich befand mich in seinem

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