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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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ältesten Teil. Zu meiner Linken schaute ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln auf mich herab, sein Gesicht war im Lauf der Zeit vom Wind glattgeschliffen worden. Zu seinen Füßen lag das Grab von Kevin Barry Byrne, der 1866 gestorben war. Auf dem Nachbargrab stand ein Obelisk, auf den nur eine einzige Zeile eingemeißelt worden war: 1804 – 1860, mit der Lady Elgin versunken .
    Seit meinem letzten Besuch hatte ich meine Hausaufgaben gemacht und wusste, dass die Lady Elgin ein hölzerner Raddampfer gewesen war, der bei einem Sturm auf dem Lake Michigan von einem Schoner gerammt wurde. Dabei starben über dreihundert Passagiere, ein Großteil der Leichen wurde an den Felsen nahe dem Campus der Northwestern angespült. Es heißt, auf einem Friedhof könne man nicht viel lernen. Aber offenbar stimmt das nicht.
    Nach dem Gedenkstein der Lady Elgin traf ich auf einen Jungen aus weißem Marmor, etwa ein Meter groß. Er stand in einem kleinen schwarzen Kasten, der vorn eine Glasscheibe hatte. Die Scharniere und der Griff waren aus Metall, das mittlerweile grün angelaufen war. Der Junge sah mich stirnrunzelnd an, als frage er sich, was ich hier bei den Toten zu suchen hatte. Ich legte die Hand kurz auf den Kastendeckel und lief dann weiter.
    Mein Bruder lag an seiner gewohnten Stelle im Schatten eines Baums. An klaren Tagen sah man von dort ein Stück des Lake Michigan. Ich legte meinen kleinen Blumenstrauß auf sein Grab, setzte mich ins Gras und schaute auf seinen Grabstein.
    Matthew Joyce

6. Februar 1990 – 4. Juli 2000
    Ich drückte einen Finger in eine Buchstabenrille und versuchte, das Richtige zu empfinden, doch ich sah nur die Wolken über mir, roch den Regen, spürte den Erdboden und das Gras und wusste, in einer hölzernen Kiste unter mir vermoderten die Überreste meines Bruders. Ich gab meine Versuche auf. Und da kamen die Tränen, wie immer stürzten sie heiß aus meinen Augen und hörten so abrupt auf, wie sie begonnen hatten. Warum das so war, hatte ich nie begriffen. Ich wischte über mein Gesicht und fragte mich, ob es immer so sein würde. Nicht, dass ich damit nicht umgehen konnte. Klar, konnte ich das, alles war bestens.
    Ich blieb noch eine halbe Stunde an dem Grab und sah in der ganzen Zeit keine Menschenseele. Nur ein Kojote tauchte auf und suchte nach seinem Frühstück. Sein Fell war grau, mit einem braunen Streifen über Nacken und Rücken. Ich beobachtete ihn, bis er anfing, mich zu beobachten. Dann wandte ich den Blick ab. Als ich noch einmal in seine Richtung schaute, war er weg.
    Ich lief zurück zum Parkplatz. Mit einem Mal hörte ich Schritte und drehte mich um. Etwa dreißig Meter hinter mir entdeckte ich eine in wetterfeste Kleidung gehüllte Frau, die sich über einen Pfad entfernte. Irgendetwas an ihr kam mir bekannt vor. Lag es am Schnitt ihrer Jacke? An einer Farbe, die aufgeblitzt war? Ich drehte mich noch einmal um, aber da war sie bereits verschwunden. Auf dem Parkplatz hatten sich mittlerweile zwei weitere Wagen eingefunden. Bei einem handelte es sich um einen verbeulten roten Toyota, bei dem anderen um Zs limonengrünen VW . Ich schlich mich in den Friedhof zurück und achtete darauf, mich lautlos zu bewegen.
    Z stand im ärmsten Teil des Friedhofs, in der Ecke, die den Lärm und die Auspuffgase der Chicago Avenue mitbekam. Ich kannte diesen Teil gut, denn um ein Haar wäre auch Matthew dort begraben worden. Doch dann hatte meine Mutter das nötige Bargeld aufgetrieben, und Matthew konnte in eine bessere Gegend ziehen.
    Z war ganz in Schwarz, und auf ihrer roten Mähne saß ein winziger Hut. Kerzengerade stand sie da, die Hände vor sich verschränkt, und starrte auf ein kleines eingefasstes Stück Erde. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet. Als sie die Hand hob, um auf ihrer Brust das Kreuz zu schlagen, versteckte ich mich hinter einem Baum. Sie ging in die Hocke und legte etwas auf das Grab, machte das nächste Kreuzzeichen, stand auf und wandte sich ab. Als sie außer Sichtweite war, ging ich zu dem Grab. Neben die Nummer auf der Umrandung hatte sie einen schwarzen Rosenkranz gelegt. Ich rührte ihn nicht an, notierte mir nur den Namen auf dem Grabstein und kehrte zum Parkplatz zurück. Zs VW war weg. Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr nach Hause.

SECHSUNDZWANZIG
    Als ich zu Hause ankam, hatte der Himmel sich aufgeklart, und es war wärmer geworden. Aber das Beste war, dass Sarah Gold auf meiner Eingangstreppe saß.
    »Du bist früh dran«, begrüßte ich

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