Kein Opfer ist vergessen
Leute sind, ist das doch gar nicht so schlecht.«
»Vielleicht. Möchtest du noch ein Bier?«
»Klar.«
Sarah stand auf, doch die Kellnerin war in der Nähe und nahm ihre Bestellung entgegen. Sarah ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Wir rieben uns die Gesichtsfarben mit Papiertaschentüchern ab. Nicht weit von uns entfernt saßen ein paar Typen, die ihren Blick nicht von Sarah lösen konnten. Sie trug Shorts, ein gelbes Tank-Top und eine überdimensionale Sonnenbrille, hatte Farbe bekommen und die Haare im Nacken zusammengebunden. Ich konnte es ihnen nicht mal zum Vorwurf machen.
»Was ist?« Sarah schob sich die Sonnenbrille in die Haare.
»Nichts.«
»Doch, du sitzt da und lächelst.«
»Darf ich nicht lächeln?«
»Schon, aber oft machst du das nicht.«
»Was?«
»Lächeln.« Die Kellnerin brachte unser Bier. Sarah strahlte und trank einen Schluck. »Es steht dir, Ian. Ich meine, das Lächeln.«
»Findest du?«
»Ja.«
Ich nippte an meinem Bier. Es war schön kühl. Sarah bestand darauf, noch einmal mit mir anzustoßen. Kichernd schielte sie zu ihren Bewunderern hinüber.
»Die gaffen dich schon an, seit wir hier sind«, sagte ich.
Sie stellte ihr Glas ab und beugte sich zu mir vor, bis unsere Lippen sich beinah berührten. »Sollen wir ihnen mal Grund zum Glotzen geben?«
»Ich dachte, wir sind Freunde?«
»Stimmt.« Sie nahm noch einen Schluck und lehnte sich wieder zurück. »Weißt du, dass du mir heute Morgen Sorgen gemacht hast?«
»Wieso das denn?«
»Weil du mit so finsterer Miene aus dem Wagen gestiegen bist. Richtig grimmig hast du ausgesehen.«
»Das tut mir leid.«
Sie wedelte mit der Hand in die Runde. »Wir haben Sommer. Waren bei einer Parade. Wir sind jung und trinken Bier. Das ist doch nicht übel, oder?«
»Nein, ist es nicht.«
»Siehst du. Also, was war der Grund?«
»Lass gut sein, Sarah.«
Sie umfasste meine Hand mit beiden Händen. Ihre Hände waren warm, ihr Griff fest.
»Nein, Ian. Wenn du ein Problem hast, möchte ich dir gern helfen.«
»Ich habe kein Problem.«
»Was war es dann?«
Vielleicht lag es am Bier. Oder an Sarah. Oder an meinem Bedürfnis, mehr zu empfinden. Etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Doch ganz gleich, an was es lag, mit einem Mal öffnete sich eine Tür. Und ich ging hindurch.
»Heute Morgen war ich auf dem Friedhof.«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Wahrscheinlich wünschte sie jetzt, sie hätte ihr Bier getrunken und den Mund gehalten. Aber nun war es zu spät, und sie konnte nicht mehr zurück.
»Und was war der Grund?«
»Ich hatte einen Zwillingsbruder. Er hieß Matthew und ist im Alter von zehn Jahren gestorben. Heute jährt sich sein Todestag.«
»Das tut mir sehr leid.«
Es war schon das zweite Mal, dass ich ihr an diesem Tag leidtat, und es störte mich nach wie vor.
»Wir vergessen es, ja?«
»Nein.«
»Doch. Es ist schon lange her, und heute ist nur ein Gedenktag, an dem ich sein Grab besucht habe.«
Sarah schwieg und betrachtete das Bier in ihrem Glas. Dann sagte sie: »Darf ich wenigstens fragen, wie?«
»Du meinst, wie Matthew gestorben ist?«
Sarah nickte.
»Das willst du nicht wissen.«
»Sag es mir.«
»Wir sind im Lake Michigan geschwommen. Er ist ertrunken.«
»Warst du dabei?«
»Ja, ich und mein Stiefvater. Matthew ist in einen Strudel geraten. Drei Tage später hat man seine Leiche gefunden.«
Sarah wurde blass. Offenbar hatte sie die Parallele erfasst.
»Richtig, Sarah. Jake und ich hatten beide einen Bruder, der, als wir Kinder waren, ertrunken ist.«
»Aber was bedeutet das?«
»Wahrscheinlich nichts.«
»Findest du es nicht verwirrend?«
»Ich habe es dir schon gesagt, verwirrend finde ich die Sache mit dem Brief, den Jake erhalten hat. Der Tod meines Bruders hat mit Jake nichts zu tun.«
»Das kannst du nicht wissen. Was ist, wenn derjenige, der den Brief geschickt hat, deine Vergangenheit kennt und dich ebenso manipulieren will, wie er es bei Jake versucht?«
»Wie stellst du dir das denn vor? Ich habe mich für Zs Seminar entschieden, ohne es jemandem zu erzählen. Niemand hat mich beeinflusst. Und nicht ich habe den Brief bekommen, sondern Havens.«
»Trotzdem kommt mir das sonderbar vor.« Sarahs Handy vibrierte. Sie warf einen Blick auf das Display. »Jake.« Sie nahm das Gespräch an. »Hi, gerade haben wir über dich gesprochen. Ja, er sitzt neben mir.« Sarah griff nach meiner Hand und drückte sie. »Magst du auch kommen?«
Sie hielt das Handy vom Ohr weg und
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