Kein Opfer ist vergessen
in meine Hosentasche.
»Unterlagen für unser Seminar?«, fragte sie.
»Auch. Wir haben ein bisschen weitergearbeitet. Möchten Sie sich nicht setzen?«
Ich räumte das Sofa frei. Z ließ sich nieder.
»Ich bin noch nicht so weit, darüber zu reden«, sagte ich und schob ein paar Ordner dahin, wo Z sie nicht sehen konnte.
»Ist ja schon gut, Mr Joyce.«
Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa. Jetzt aus der Nähe, entdeckte ich auf ihren Wangen ein Netz roter Äderchen. Ihre Lippen waren feucht, und in ihren Augen lag etwas, das mir kalt und verzweifelt zugleich erschien.
»Ich muss Ihnen eine Frage stellen, Ian.«
»Okay.«
»Warum haben Sie sich für mein Seminar entschieden?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weil mich das Thema interessiert.«
»Und wie sehr interessiert Sie das Thema?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Vielleicht sollte ich lieber fragen, warum es Sie interessiert.«
»Ich finde Strafrecht generell faszinierend. Und das Seminar bietet mir die Möglichkeit, mich zu engagieren.«
»Und Ihr Ziel dabei ist?« Z deutete auf die zusammengerafften Unterlagen. »Möchten Sie etwas wiedergutmachen? Einen Fall entdecken, in dem jemand zu Unrecht verurteilt wurde und seine Unschuld beweisen?«
»Zum Beispiel. Warum wollen Sie das alles wissen?«
»Weil ich dieses Seminar schon seit über zehn Jahren anbiete. Aber noch nie gab es dazu Anfragen von der Polizei. Detective Rodriguez war der Erste, der sich jemals bei mir gemeldet hat. Und das beunruhigt mich.«
»Okay, kann ich verstehen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Rodriguez ist der Ansicht, dass Sie eine geheime Agenda haben. Hintergedanken, die Sie dazu gebracht haben, an meinem Seminar teilzunehmen. Hat er recht?«
»Ich habe keine geheime Agenda. Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht, als wir in den Wald gefahren sind. Aber wir wollten einfach nicht bloß tatenlos rumsitzen. Etwas in Gang setzen. Wer hätte schon ahnen können, dass dort eine Leiche liegt.«
»Wessen Idee war es, dorthin zu fahren?«
»Das haben wir gemeinsam beschlossen. Bei einem Bier. Ziemlich dumm, schon klar.«
»Das könnte man so sagen.«
»Wir haben unsere Karten auf den Tisch gelegt«, sagte ich bestimmt. »Ich weiß nicht, was Sie sonst noch erwarten.«
Z schwieg. Wahrscheinlich hatte sie diese Methode in ihrer Zeit als Journalistin kultiviert und festgestellt, dass der andere dann von sich aus weitersprach. Ich sagte keinen Ton.
»Wie gut kennen Sie Ihre Kommilitonen?«, fragte sie schließlich. »Ms Gold, beispielsweise.«
»Wir haben zusammen studiert. Aber das heißt nicht, dass wir uns besser kennen würden.«
Zs Blick wurde eindringlich. Dabei hatte ich nicht mal gelogen, es fühlte sich nur so an.
»Und Mr Havens.«
»Ihn habe ich zum ersten Mal in unserem Seminar gesehen.«
»Kommen Sie alle gut miteinander aus?«
»Darf ich mal fragen, warum Sie das interessiert?«
»Natürlich. Es ist eine kleine Gruppe. Es gehört zu meinen Aufgaben, die Stimmung der Teilnehmer zu testen. Festzustellen, wer zu den anderen passt und wer nicht.«
»Wir verstehen uns bestens.«
»Studenten unterscheiden sich immer voneinander. Jeder hat seine individuelle Herkunft und eine eigene Persönlichkeit. Einige sind« – sie hielt inne, schien nach dem richtigen Wort zu suchen – » fragiler als andere.«
»Wir sind alle drei ziemlich taff.«
Z legte den Kopf zur Seite und studierte mein Gesicht. Um ihren Mund bildete sich ein harter Zug, der ebenso schnell verschwand, wie er entstanden war. »Dann bin ich ja beruhigt.« Sie langte nach einer meiner Akten, ohne sie sich anzusehen. »Haben Sie im Fall Harrison Fortschritte gemacht?«
Ich nahm ihr die Akte ab. »Ich glaube, wir werden etwas vorweisen können.«
»Bis nächste Woche?«
»Das hoffe ich.«
»Sehr schön. Tja, ich muss dann mal wieder.« Sie stand auf. Ich folgte ihr hinaus in den Flur, wo sie sich kurz im Spiegel musterte. Für einen Moment sah ich sie als Frau und fragte mich erstmals, was sie an ihren Freitagabenden machte. Hatte sie einen Freund? Trieb sie sich in Bars herum? Oder ließ sie sich was zu essen kommen und schaute DVD s? Und wann hatte sie zum letzten Mal Sex gehabt? Anscheinend konnte sie Gedanken lesen, oder ich hatte ihre gelesen.
»Heute Abend fahre ich in die Stadt«, sagte sie. »Sehe mir ein Stück im Goodman an.«
Ich ging nicht darauf ein.
»Keine Angst, Ian, ich bitte Sie nicht, mich zu begleiten. Ich habe nicht mal eine zweite Karte.« Ihr Lachen war
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