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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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seiner Brieftasche auf. Ein Klacks. Er hatte es nicht mal gezählt, nur alles blindlings zusammengerafft. Könnten fünfhundert sein. Jedenfalls genug für die Fahrkarte zurück nach Maryland. Er holte das Handy wieder hervor, klickte die Telefonnummer seiner Mutter an und drückte auf die grüne Taste. Er ließ es einmal klingeln, ehe er die Austaste drückte und das Display anstarrte.
    »Rufst du sie nun an, oder nicht?«
    Für einen Takt setzte Lukes Herzschlag aus. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, trat ins Licht und kicherte. Er war alt, das Gesicht ein lang gezogenes Oval, gelbe Augen. Das Haar glänzte und war aus der Stirn glatt nach hinten gestrichen.
    »Wie heißt sie?«, fragte er.
    »Wer?«
    »Das Mädchen, das du anrufen möchtest.«
    »Kein Mädchen.«
    »Ah, dann wolltest du zu Hause anrufen.«
    Luke steckte das Handy zurück.
    »Wie alt bist du?«
    »Dreizehn.«
    »Und woher kommst du?«
    »Aus Baltimore.«
    Der Mann nickte, wie wenn nichts selbstverständlicher wäre, als aus Baltimore zu kommen. »Ich wollte hier eine rauchen«, sagte er und sah Luke auffordernd an. Luke zog seine Packung hervor, bot dem Mann eine an und schüttelte eine für sich heraus. Sie zündeten die Zigaretten an. Luke lehnte sich an die Mauer und blies blauen Rauch in die Nacht. Die Gasse war lang und gewunden, von der Bar aus war er nicht zu sehen. Trotzdem konnte er hier nicht mehr lange herumstehen, immerhin hatte er die halbe Tageseinnahme vom Timbers in der Tasche.
    »Arbeitest du nicht als Hilfskellner im Timbers?«, fragte der Mann.
    »Warum? Sind Sie einer der Gäste?«
    »Hin und wieder zum Special. Wenn man Pabst Blue Ribbon für anderthalb Dollar kriegt.«
    »Dienstag- und Donnerstagabend. Den Preis toppt keiner.«
    »Ich bin kein Schwuler, Luke.«
    »Mir scheißegal. Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?«
    »Hab gehört, wie dein Boss dich gerufen hat. Wahrscheinlich sucht er dich schon.« Der Mann warf seinen Zigarettenstummel weg. Er trug Jeans und Stiefel mit abgelaufenen Hacken.
    »Mit dem Laden bin ich fertig«, sagte Luke.
    »Wirst nicht gut behandelt, oder?«
    »Ich will einfach raus aus Chicago.«
    »Wieder nach Hause?«
    »Kann sein.«
    »Brauchst du Geld für die Fahrkarte«?
    »Ich hab mehr als genug.«
    »Du meinst das, was du geklaut hast.«
    Luke stieß sich von der Mauer ab. »Fick dich, Alter.«
    Die Nasenflügel des Mannes zuckten. Wie bei einer Wildkatze, die Beute riecht. Luke überlief ein Schauder.
    »Ich muss los«, sagte er.
    Der Mann zog eine Handvoll Scheine aus der Tasche. »Zweihundert für ein Mal blasen.«
    Luke spürte die Verlockung. Wäre nicht mehr als zehn Minuten Arbeit. Und das Geld wäre auch nicht schlecht. Trotzdem keine gute Idee. Nicht mehr lange, und die Fett-Sau käme ihn suchen.
    »Ein andermal, Mister.«
    Der Mann zählte noch mal hundert Dollar ab, legte sie mit den ersten zweihundert zwischen sie auf den Boden und beschwerte die Scheine mit einem Stein.
    »Ziemlich viel Schotter für eine Gasse.«
    »Lutsch mir einen, und er gehört dir.«
    Luke sah das Funkeln in den gelben Augen und hielt es für Geilheit. »Dann nichts wie los.« Er raffte das Geld auf, und sie verzogen sich in den finstersten Teil der Gasse. Der Mann lehnte sich an die Mauer. Luke griff ihm zwischen die Beine.
    »Na, was haben wir denn da?«
    Der Mann öffnete seinen Gürtel. Luke ging auf die Knie. Den schweren Stein in der linken Hand des Mannes sah er nicht, spürte kaum den Schlag, mit dem sein Schädel gegen die Mauer krachte. Der Mann mit den gelben Augen packte ihn und schleifte ihn zu einem Van mit schwarz gestrichenen Fensterscheiben, der fünfzig Meter weiter auf dem Kundenparkplatz von Cathys Cupcakes stand. Er hievte den Jungen hinten in den Van und zog ihn aus. Dabei rutschte das Handy aus der Hosentasche und begann zu vibrieren. Der Mann schnappte es sich und schaute auf das Display, auf dem das Wort Zuhause aufleuchtete. Er schüttelte den Kopf und schaltete es aus, ehe er anfing, sich seinem neuesten Fang zu widmen.

VIERUNDDREISSIG
    Die Sonne schien auf das Fenster meines Schlafzimmers. Ich wälzte mich herum und versuchte, das Pochen in meinem Kopf zu ignorieren, bevor ich kapierte, dass unten an die Tür gehämmert wurde. Ich stand auf, ging ins Bad, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und begutachtete mich im Spiegel über dem Becken. Wer auch immer reinwollte, er konnte warten. Ich kehrte in mein Schlafzimmer zurück und streifte Jeans und T-Shirt über. In der

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