Kein Ort - Nirgends
die zahllosen Tage gegen unsichtbare Ankläger zu seiner Verteidigung führen muß, was er auch tun mag, wo er geht und steht, selbst nachts, wenn er gegen vier aus dem Schlaf fährt.
Es ist um verrückt zu werden.
Wie bitte?
Ich? Ach nichts. Ein Versehen. Eine dumme Angewohnheit.
Joseph Merten, der Gastgeber. Spezerei- und Parfümeriegroßhandel zu Frankfurt am Main. Liebhaber der Künste und Wissenschaften.
Ich will doch hoffen, Sie fühlen sich wohl!
Sehr wohl. Bestens. Danke verbindlichst.
Der Mann wird doch nicht zu den Affen gehören, die ihren bürgerlichen Salon mit ein paar Adelstiteln dekorieren müssen, und seien sie noch so dürftig. Zwar hat ihm Wedekind versichert, wenigstens das habe die Nachbarschaft zu Frankreich bewirkt: Solche dummstolzen Sitten seien ganz aus der Mode. – Das glaub ich! hat Kleist da ausgerufen. Das ist auch das einzige, wozu dieses verdorbene Volk noch imstande ist: ein paar überfällige Moden abzuschaffen.
Kleist! Wäre es möglich: Sie hassen die Franzosen!
Allerdings. Ich hasse sie. Er denkt: Wie man haßt, was man zu sehr geliebt hat.
Der Mann bleibt dem Arzt in vielem ein Rätsel, er zog sich auch, da seine Gesundheit sich festigte, wieder ganz auf sich selbst zurück. Erweckt den Eindruck, wenn er spricht, er täte es aus freien Stücken. Keine Vertrautheitenmehr. Wenn man seine Kräfte zusammenkratzt, daß sie zu einem Sarkasmus reichen, hat man gewonnenes Spiel.
So hat er eines Tages, immer in diesem belustigten Ton, der Familie des Hofrats auseinandergesetzt, wie schwer Papiere brennen – besonders dann, wenn man nur ein elendes, verstopftes, stinkendes und qualmendes Ding von einem Ofen hat, um sie hineinzustecken. Wenn aber endlich doch die Flammen an den Rändern der Blätter lecken, die Seiten in der Hitze sich krümmen, aufflammen, verkohlen: welch eine Hochstimmung und Erleichterung einen da ergreift. Wie frei man sich fühle. Wie unglaublich frei.
Frei? Wovon?
Kleist lachte gekünstelt. Frei von Verpflichtungen, die man sich womöglich bloß eingeredet hat.
Mehr kriegten sie nicht heraus. Wenn nur der Hofrat jenen Brief nicht gelesen hat, Wielands Brief, den eine englische Kugel hatte zerfetzen sollen, zugleich mit seinem Herzen. ›Sie müssen Ihren Guiscard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Atlas auf Sie drückte.‹ Gütiger Himmel, wie peinlich. Wedekind muß glauben, dies sei der unter Literaten übliche Ton, und danach wäre es nur folgerecht, wenn ein Mensch mit angegriffenem Nervensystem Opfer der übertriebenen Ansprüche seiner Freunde würde.
Wer bin ich. Lieutenant ohne Portepée. Student ohne Wissenschaft. Staatsbeamter ohne Amt. Autor ohne Werk.
Gemütskrank. Das beste wird sein, sich diese Formel zu eigen zu machen, man wird sie brauchen müssen.
Nur nicht wieder schreiben. Alles, das nicht.
Die Günderrode kommt quer durch den Raum auf ihn zu, um ihm die leere Tasse abzunehmen. Daß man nicht gehn kann, wenn man will, bloß weil man auf eines andern Kutsche angewiesen ist. Wie auch die Minuten schleichen. Was geht vor? Die Bettine will sich, so scheint es, irgend etwas aus dem Pompadour der Günderrode nehmen. Ungeschickt. Sie läßt ihn fallen, etwas Blitzendes rutscht heraus, gleitet über das glatte Parkett. Sehr seltsam: ein Dolch. Kleist, geistesgegenwärtig, hebt die Waffe auf, reicht sie der Günderrode.
Ein kurioses Instrument, mein Fräulein, im Puderbeutel einer jungen Dame.
Kurios? Vielleicht. Mir kommt es ganz natürlich vor. Bettine entwindet ihr den Dolch. Schon lange habe sie ihn sich genauer ansehn wollen. Wer hätte auch denken können, daß die Günderrode ihn bei sich trug!
Wie auf ein Signal haben alle sich erhoben. Kleist hört ungewollt, wie Savigny sie leise fragt: Immer? und wie die Günderrode antwortet: Immer. Savigny schüttelt bekümmert den Kopf. Der Dolch geht von Hand zu Hand, man prüft seine Schneide, findet sie scharf, bewundert den silbernen Knauf. Der Dolch der Günderrode ist für jedermann ein Begriff, Kleist kann nur staunen. Charlotte und Paula Servière, die hübschen Zwillinge, liefern sich ein Scheingefecht, Wedekind geht dazwischen, konfisziert die Waffe, erklärt halb im Ernst, er als Arzt habe das Recht, sie einzubehalten, erwiesener Gefährlichkeit wegen.
Das werden Sie nicht tun, sagt die Günderrode, ungewöhnlich ernst, und unter allgemeinem Schweigen gibt der Hofrat ihr den Dolch mit einer Verbeugung zurück. Gleichmütig verstaut sie ihn in ihrem
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