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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gefreut . . .
    Stimmt es noch? Soll sich alles geändert haben? Gibt es das? Und es schmerzt nicht mehr, Savigny, nicht mehr sehr, wenn man Selbstbetrug nicht mehr nötig hat? Ich wollte Ihnen sagen, daß es entsetzlich unnatürlich zugehen müßte, wenn wir beide nicht sehr enge Freunde würden . . .
    Ihre Hand, Savigny: Tut sie noch weh?
    Wie? Ich bitte Sie, Karoline! Da bemüh ich mich, den jungen Poeten hier an die Grenze zu führen, die zwischen Philosophie und Leben gesetzt ist . . .
    Ihre Hand, Savigny. Nicht wahr, sie schmerzt nicht mehr.
    Nein, Günderrödchen, da du es so willst.
    Sehn Sie. So war es nur dieser Kutschenschlag. Hatten Sie sich doch nicht ernstlich verbrannt.
    Ärzte irren sich, man weiß das doch. Aber der Jemand, der den Kutschenschlag zuwarf, hat mir ganz entsetzlich weh getan, das mußt du mir glauben.
    Das muß ich wohl. Die Geschichte mit Ihrer kranken Hand ist sehr schön, mir ist, so hätte ich die Hand lieber, als wenn sie immer gesund geblieben wäre.
    Vergessen Sie nur nicht, Günderrödchen, daß Sie jetzt nicht mehr bloß mein Freund, sondern auch unser Freund sind.
    Wie könnt ich, Savigny. Ihr beide, Gunda und Sie, ihr gehört jetzt zu meinem Schicksal.
    So sprechen wir im Traum oder wenn wir zum letzten Mal das Wort haben. Kleist stört nicht bei diesem Traumgespräch, er fühlt es und spürt keinen Hang, sich zurückzuziehn.
    Wenn ich Ihr Bruder wär, Savigny. Oder Gundas Schwester.
    Günderrödchen, du bist ein dumm Günderrödchen.
    Immer weiter so, nachtwandlerisch, ohne Furcht vor dem Absturz. Da es eigentlich mein Gefühl empört, von irgend etwas in der Welt abzuhängen, nicht frei und einzig die erste in jedem Verhältnis zu sein – denken Sie sich nur, da will ich doch oft mit Kraft und Mut mich von euch beiden losreißen und mein eignes, abgesondertes, glückliches Leben führn.
    Wunderliche Empfindungen und Vorsätze, Günderrode. Sie haben ja ordentlich republikanische Gesinnungen,ist das vielleicht ein kleiner Rest von der Französischen Revolution? Nun, da müßten Sie sich mit unserm Freund hier verstehn; er will und will es mir nicht abnehmen, daß es wohltätig eingerichtet ist, wenn das Reich der Gedanken von dem Reich der Taten fein säuberlich getrennt bleibt.
    Worin da die Wohltat liegt, wird er Sie fragen.
    Eben das hat er mich grade gefragt. Und ich sag ihm und dir: Die Wohltat liegt in der Gedankenfreiheit, die wir dieser weisen Einrichtung schulden. Oder wollt ihr es wirklich nicht sehn, welche Einschränkung auf allem Denken läge, wenn wir fürchten müßten, unsre Phantasien könnten in die wirklichen Verhältnisse Eingang finden. Um Himmels willen, nein: Daß man die Philosophie nicht beim Wort nehmen, das Leben am Ideal nicht messen soll – das ist Gesetz.
    Bleibt zu fragen: Gilt es immer? Ausnahmslos?
    Allerdings. Es ist das Gesetz der Gesetze, Kleist, auf dem unsre menschlichen Einrichtungen in ihrer notwendigen Gebrechlichkeit beruhn. Wer dagegen aufsteht, muß zum Verbrecher werden. Oder zum Wahnsinnigen.
    Ha, ruft Kleist wie erfreut. Da danke ich Ihnen aber sehr. Sie lehren mich Goethe verstehn.
    Das müßten Sie mir erläutern.
    Später, Savigny, vielleicht später. Die Philosophie also, Sie sagen es selbst, ist grund- und bodenlos geworden. Das können Sie wörtlich nehmen, und wären Sie in Frankreich gewesen wie ich, und hätten Sie gesehn, was ich ansehn mußte, so wüßten Sie, was ich meine. Man hat ihr die Gründe vertauscht, den Gedanken den Boden weggezogen.
    Gebrechlichkeit – sein Wort aus Savignys Mund. Kleistverfällt in Schweigen, steht jetzt allein am Fenster, man möchte wetten, er sieht die Landschaft nicht, auf die er zu blicken scheint und die ihm, sähe er sie, wohl einen Ausruf, Freude oder Anerkennung, entlocken dürfte. Es soll vorkommen, daß einer sein Lebtag das Land seiner Geburt vor Augen hat, nichts andres wahrnimmt als Kiefernwald, flache grüne Seen, Roggen-, Rüben- und Kartoffelfelder. Kleist glaubt es zu hören, ihr Gedankengeflüster hinter seinem Rücken. Die Uhr schlägt vier, so langsam geht die Zeit, und im Zimmer hinter ihm bewegen sie sich unbeirrt in ihrer freien untadligen Art, in der sie eine gültige Form zu sehen scheinen. Die Sitten, die hier geduldet, vielleicht erwartet werden, sind ihm neu, nicht ohne Reiz. Alle, denkt er, mit ganz wenigen Ausnahmen, verkennen mich.
    Sie haben ganz recht, sagt eine Stimme neben ihm. Es gibt Wörter, die erwartet man von Savigny nicht zu

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