Kein Ort - Nirgends
hören.
Gebrechlichkeit, sagt Kleist. Doch woher wissen Sie . . . Ihre Mundwinkel zucken.
Man muß sich vor Ihnen in acht nehmen.
Das tun die meisten.
Wir sollten nicht tun, was die meisten tun? Was sonst? Gibt es eine andre Art zu reden?
Ich dachte eben, sagt Kleist, und fast glaubt er sich, daß er es gedacht hat, was das Gegenteil von Gebrechlichkeit wäre.
Übereinkunft, sagt die Günderrode. Konvention.
Sie wissen Bescheid. Ich höre Ihnen keine Geringschätzung an?
Sollten wir geringschätzen, was so mächtig und so nötig ist.
Woran man sich also zu halten hat.
Wenn man kann. Unbedingt.
Ein delphisches Orakel, Kleist mag das nicht. Über Gebrechlichkeit soll reden, wer sie am eignen Leib erfahren hat.
Die Frau, anscheinend mit einem Übersinn für Regungen anderer ausgestattet, läßt das Thema fallen und fragt, nun allerdings im konventionellsten Ton: Sie sollen schon hier gewesen sein?
Kleist bedient sie: Zweimal. Das letzte Mal mit meiner Schwester. Die Ufer hier kenn ich, vom Schiff aus.
Die Rheinfahrt mit Ulrike, die, wie jeder längere Aufenthalt mit ihr allein, in Zwist und Mißverständnis endete. Warum, das wissen wir, doch dürfen wir es nicht bekennen. Die Landschaft ist mir nahegegangen, diese Günderrodes und Brentanos würden sich wundern über den unempfänglichen Preußen, könnten sie hören, was er in Briefen seinen Freunden schrieb und was er fehlerfrei ohne Blatt zitieren könnte: Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von Mainz bis Koblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt.
Da würde selbst Brentano, der in einer Glückshaut geboren ist, der früh und allzu leicht zu Ruhm gekommen, wohl aufhorchen, den Fremdling umarmen und der Gesellschaft prophezeien, solche Sätze würden einst, wenn es mit rechten Dingen zuginge, in jedem deutschenSchullesebuch stehn. Und allzu leicht und immer wieder lassen wir uns verführen, einmal, über das eigne Grab hin, werde es mit rechten Dingen zugehn, nach Wert und Würdigkeit, und nicht nach Sitte, Rang und Namen. Phantasterei.
Jetzt eben, ein seltner Anblick, stehn die drei Brentanos in der Mitte des Raums zusammen, Clemens, Gunda, die Bettine, lächeln einander zu, wie nur Geschwister lächeln, heben ihre Gläser gegeneinander, stoßen an, trinken. Eine verblüffende Familienähnlichkeit, weniger in der Physiognomie als in Gesten, Haltungen. So bewegt man sich, glaubt Kleist, wenn man sich auf dieser Welt für unentbehrlich hält. Er nimmt sich das Recht, sie für anmaßend zu erklären, weil dieser Mangel an Selbstzweifel, ihr Erbteil, ihnen verborgen bleiben muß. Übrigens sind sie alle reizvoll, auch der Mann, jeder auf seine Weise. Die dunklen Augen, die bleiche Stirn, das krause tiefbraune Haar. Italienischer Einschlag, Wedekind hat es angedeutet. Und die Beredsamkeit der Selbstbewußten. Keine schwere Zunge, kein Stammeln. In Wuchs, Aussehn, Gehabe, bei aller Exaltiertheit – er gibt es ja zu – das, was man edel nennt. Gute Rasse.
Schluß. Schluß. Diese Ruhmsucht immer, dieser Unsinn, den sein Gehirn von selbst produziert, wenn er schwach genug ist, es nicht zu überwachen. Schullesebuch! Er macht sich lächerlich.
Dunkel erinnert er sich, dem Doktor einmal geklagt zu haben, wie es ihn quält, daß die Musik in seinem Innern verstummt ist. Bis auf die nervenzerreißenden Mißtöne, die ihm vorigen Herbst in seinem entsetzlich leeren Pariser Zimmer, aus dem der Geruch von kaltem Rauch nicht wich, diesen Kopfschmerz machten, der sich dannauf einen Grad steigerte, daß er in die Verwechslung der Erdachse würde gewilligt haben, nur um von ihm befreit zu sein.
Schon wieder. Nichts ekelt ihn so wie diese literarischen Wendungen, die sich niemals auf dem Höhepunkt unsrer Leiden einstellen – da sind wir stumm wie irgendein Tier –, sondern danach, und die niemals frei sind von Falschheit und Eitelkeit. Würde gewilligt haben! Als hätte er nicht, da es ihn aus der verhaßten Stadt weg und durch die neblige nordfranzösische Ebene der Küste zutrieb, tatsächlich die Pole seines Lebens wissentlich vertauscht: Da er sich jenem Teufel in Menschengestalt, dem Urfeind, unterstellen wollte, um in seinen Diensten
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