Kein Ort - Nirgends
auf der britischen Insel den Tod zu finden. Napoleon. Anstatt ihn zu fliehn bis an den Rand der Welt.
Dieser Knäuel in seinem Kopf. Kleist beginnt die Gründe für seine Irrfahrt zu vergessen, die Einsicht in seine Handlungen, die er einmal besessen haben muß, schwindet ihm. Er muß nun gegen jedermann darauf bestehn, daß ihm der Zugang zu jenem Zeitraum verschlossen ist. Gemütskrank, das Wedekindsche Stichwort, unbestimmt und geheimnisvoll genug, alles das zu decken, auch vor ihm selbst. Denn kein Mensch kann auf die Dauer mit der Erkenntnis leben, daß, so stark wie sein Widerstand gegen das Übel der Welt, der Trieb in ihm ist, sich diesem Übel unbedingt zu unterwerfen. Und daß der Name, den er dem Übel leiht, ein Ersatzname ist, den uns die Furcht vor andren Benennungen eingibt. Napoleon. Kleist spürt, wie das gräßliche Wort anschwillt, sich vollsaugt mit seinem ganzen Haß, seiner ganzen Mißgunst und Selbstmißachtung. Und er spürtauch – das aber darf nicht wahr sein –, wie alle trüben Ströme seiner Seele von diesem Namen angezogen werden, ihm gierig zutreiben als dem Ort, der ihnen bereitet ist.
Keinem Menschen hat er je sagen können, und er weiß es selber nicht und will es nicht wissen, wie er von der novemberöden französischen Küste weg – da der verfluchte Korse dem Todessüchtigen den einzigen Gefallen nicht getan, seine eignen Pläne aufgegeben, seine Flotte nicht nach England geschickt, dem Verzweifelten das ersehnte Schlachtfeld nicht bereitet hat –, wie er also nach Paris zurück und, mit strikter Marschorder des preußischen Gesandten, auf den Weg nach Potsdam und bis Mainz gekommen ist.
Ein zerstörtes Instrument, zum Schein zusammengeflickt, das keinen Ton mehr hergeben wird. Das zu zerbrechen, auch zu schonen nicht lohnt. Günstiger Zustand, Doktor, ohne Hoffnung, ohne Verpflichtung. Der günstigste. Kleist?
Einmal in meinem Leben, Herr Hofrat, möcht ich dem Menschen begegnen, der mir ohne versteckten Vorwurf erlaubt zu sein, der ich bin.
Wie soll zurechtkommen, wer sich in das Gegebene nicht zu schicken weiß.
Manchen Menschen hat die Natur einen Schutz gegen jedes Unmaß mitgegeben. Übertriebene Taten und Gedanken stoßen sie ab. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung denkt Kleist an den Augenblick, da der Doktor wie vor dem Gottseibeiuns vor ihm zurückfuhr. Er, dessen bestes Teil die Berufsneugier ist, fragte Kleist, was einer fühlt, der seine kostbarsten Papiere verbrennt. Ohne zu zögern und mit einem Ausdruck, den der Doktorspäter begeistert nennen mußte, erwiderte Kleist: Nun lag das Nichts offen vor mir.
Da brach der Hofrat das Gespräch ab. Er gab es auf, seinen Patienten begreifen zu wollen. Dem war es recht. Er fuhr häufiger nach Wiesbaden hinüber, blieb auch tage- und nächtelang in dem Pfarrhaus, duldete es, daß Wedekind ihn danach mit verschmitzten Blicken empfing, auch ein Wort fallen ließ über die unübertreffliche Heilkraft weiblichen Wesens. Er sah: Marianne, des Pfarrers Tochter, ein naives Kind, wagte nicht einmal zu denken, was andre für erwiesen nahmen. Kleist ging in der Umgebung der Stadt mit ihr spazieren und erzählte ihr von seinen Reisen. Dem Pfarrer, einem verständigen Mann, hatte er einen besorgten Blick mit einem Kopfschütteln beantwortet. Daß er nach eignem Gefallen kommen und gehen konnte und keiner Ansprüche an ihn hatte, tat ihm wohl. Doch eine geringfügige Änderung im Benehmen des Mädchens, Anzeichen von Befangenheit, haben ihm signalisiert, daß er sich nicht länger in ihrer Nähe bewegen kann, ohne Erwartungen zu wecken. Das alte Lied.
Ich reise ab, Herr Hofrat. Bald.
Gewiß, Kleist, es wird das Richtige sein. Aber das ist doch kein Grund zu Traurigkeit.
Kleist sagt, da wolle er ihm ein Gleichnis erzählen, das, er solle es ihm nicht verübeln, von seinem Hund handle. Wenn er es nicht unschicklich finde, sich so lange von der übrigen Gesellschaft zu absentieren.
Der reine Hohn. Niemand kümmert sich um sie. Die sich lange kennen, sind begierig, ihre immer gleichen Gespräche fortzuführen und interessieren sich nur oberflächlich für die Angelegenheiten eines Fremden. DieGünderrode hält endlich den Savigny fest, ihr ist, als müßte an diesem Nachmittag noch ein entscheidendes Wort gesprochen werden. Obwohl sie weiß, die Entscheidungen sind längst gefallen. Ein Rest ist geblieben, der vergiftet sie. Ein Bedürfnis nach Genugtuung? Ein letzter Versuch, bis auf den Grund verstanden zu werden? Sie will sich
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