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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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und du siehst es selbst, wie ich nicht blaß werde. Ich habe viel zu tun, Savigny. Ich lasse mir Müllers Geschichte der Schweiz vorlesen, ich studiere den Schelling mit großem Fleiß, und, ich kann es dir nur mit großer Blödigkeit sagen: Ich schreibe ein Drama, und meine ganze Seele ist damit beschäftigt. Ich denke mich so lebhaft hinein, werde so einheimisch darin, daß mir mein eignes Leben fremd wird: Hörst du, Savigny, ich weiß mir nichts Besseres. Gunda sagt, es sei dumm, sich von einer so kleinen Kunst, wie es die meine sei, bis auf diesen Grad beherrschen zu lassen. Aber ich liebe diesen Fehler, wenn es einer ist. Er hält mich oft schadlos für die ganze Welt. Und er hilft mir glauben an die Notwendigkeit aller Dinge, auch an die meiner eignen Natur, so anfechtbar sie ist. Sonst lebte ich nicht, lieber Savigny, das mußte ich dir einmal sagen. Und nun soll zwischen uns nie wieder die Rede davon sein.
    Welch lange Ansprache, lieber Freund. Der Savigny wird sie nicht vergessen.
    Kleist sieht aus den Augenwinkeln, wie die beiden aufstehn. Er glaubt in Savignys Gesicht eine unerwartete Bewegung wahrzunehmen, in den Mienen der Günderrode eine unerwartete Festigkeit. Savigny beugt sich über ihre Hand, lange, dann gehn sie schnell auseinander, sie zu Bettine, die in der Fensternische auf sie gewartet hat, er kommt zu der Männergruppe, die sich, höflichkeits- oder interessenhalber, um Kleist bildet.
    Es ist halb fünf.
    Wedekind, froh sicherlich, von dem anstrengenden Alleinsein mit seinem Schützling erlöst zu werden, gibt mit Kleists Erlaubnis eine originelle Beobachtung zumbesten, die Kleist an seinem, Wedekinds, Hund gemacht haben will: Bello, ein harmlos-treues Tier, das sich gleich die ersten Tage als Kleist im Hause war, mit dem Gast angefreundet, ihn später auch auf seinen weiten Spaziergängen begleitet hat. Einmal nun habe Kleist den Hund, der immer Freude am Gehorchen gezeigt, zwischen zwei Befehle gestellt gesehn, deren jeder ihm zwingend erscheinen mußte: Erstens habe Wedekinds Frau ihn aus dem Küchenfenster gerufen, damit er, wie so oft, des Hofrats jüngstes Töchterchen bewache; zum andern habe Kleist ihm von der Straße her gepfiffen, mit ihm spazieren zu gehn. Da sei der Hund, entsetzlich unschlüssig, zwischen Küchenfenster und Hoftor hin- und hergelaufen, und sein Gesicht habe, das versichere Kleist, einen unglücklichen Ausdruck gehabt. Weder Kleist noch des Hofrats Frau hätten ihn, des Experimentes halber, von ihrem Befehl entbunden. Der Hund sei offenbar von dem Konflikt überwältigt worden. Seine Augen hätten sich mit jenem Häutchen überzogen, das bei Hunden Müdigkeit anzeigt, und, von unwiderstehlicher Schlafsucht bezwungen, habe er sich genau in die Mitte zwischen des Hofrats Frau und Kleist gelegt und sei auf der Stelle eingeschlafen.
    Man staunt, lacht, applaudiert. Kleist, auf den alle Augen sich richten, fügt hinzu: Ja, auch die Frau Hofrätin und ich mußten herzlich über das kuriose Benehmen des Tieres lachen. Erst später, als ich darüber nachgedacht, sagte ich zu mir: Der arme Hund. – Und während die Herren den Vorfall erörtern, denkt er: Wer sein Leben lang schlafen könnte.
    Wedekind, leider, muß eine unpassende Bemerkung machen. Herr von Kleist, sagt er lächelnd, scheine sich biszu einem gewissen Grad in der Lage seines guten Bello zu fühlen.
    In welchem Sinne, will man nun wissen.
    Kleist wünscht dringlich, er hätte geschwiegen. Es rächt sich immer, aus sich herauszugehn. So knapp wie möglich sagt er: Nun, der Vergleich mit dem Tier sei ein Scherz, wenn auch die Ähnlichkeit seiner Lage mit gewissen unlösbaren Situationen des menschlichen Lebens unverkennbar sei.
    Zum Beispiel? – Merten, der Gastgeber. Es schmeichelt ihm, daß in seinem Haus derart tiefsinnige Gespräche geführt werden.
    Wer fragt, soll Antwort haben. Zum Beispiel, sagt Kleist, folgender Fall: Jemand fühle, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, den Zwang in sich, einer Bestimmung zu folgen; seine Vermögensverhältnisse gestatten es ihm nicht, im Ausland zu leben und frei seinen Intentionen nachzugehn, noch auch in seinem Vaterland zu existieren, ohne ein Amt anzunehmen. Dieses Amt aber, zu dessen Erlangung er sich unerträglich erniedrigen müßte, würde in jedem Sinn seiner Bestimmung zuwiderlaufen. Voilà. Da hätten Sie Ihr Beispiel.
    Man schweigt. Merten endlich, der frei heraus bekennt, Kleists Drama ›Die Familie Schroffenstein‹ gelesen zu haben und nicht glauben

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