Kein Ort - Nirgends
fänden!
Unrühmlich ist es, denkt Kleist, sich von seiner Zeit zerbrechen zu lassen. Warum, warum nur soll ich nicht leben können mit diesen hier.
Es gibt diese Tage, die kein Ende finden. Die Uhr schlägt fünf, man will ins Freie. Kleist, der schon aufatmet, ein unbehelligtes Gehen in frischer Luft erhofft, muß statt dessen dem Merten Rede und Antwort stehen. Der nämlich, obwohl natürlich ein schlichter Leser, inkompetent im literarischen Fach, kann sich doch nicht enthalten, den jungen Autor davor zu warnen, in der gleichen konstruierten Art und Weise fortzufahren wie in seinem ersten Stück.
Der Ton, der Kleist stumm macht. Daß er die ›Schroffensteiner‹ selbst für eine Scharteke hält, wird er nicht sagen. Stammelt von Leidenschaften, die das Leben der Menschen regieren und sich um Logik nicht scheren. Dazu muß nun wieder Merten lächeln. Sei es nicht grade die Größe dieses Zeitalters, daß es die niedern Leidenschaften gebändigt, die Vernunft an die Macht gehoben habe? – Ob er denn von einem Dichtwerk die Ordnung und Übersichtlichkeit verlange, die in seinen Rechnungsbüchern herrsche, fragt Clemens, und Merten, in aller Unschuld, erwidert: Warum auch nicht. Warum sollten die Regeln, die sich in einer Disziplin bewährt hätten, nicht auch in einer andern gelten. Kleist wieder, unter dem Zwang, ein Thema in allen seinen möglichen Wendungen zu diskutieren: Ordnung! Ja! Ordentlich ist heute die Welt. Aber sagen Sie mir: Ist sie noch schön?
Das käme auf den Begriff von Schönheit an. – Der Mann hat nicht nur Ansprüche, der Mann hat recht. Gegen jede Erwartung kann er sogar einen Satz aus dem Drama des geschätzten Gastes anführen, als Beispiel für die Verirrung des Schönheitsbegriffes: ›Ah! – Der Augenblick nach dem Verbrechen ist oft der schönste in dem Menschenleben.‹ Stecke in dieser Zeile nicht fast ein Aufruf des Dichters zum Verbrechen?
Kleist blickt angestrengt in des Kaufmanns graue Augen. Aus denen schlägt er keinen Funken. Matt begründet er den beanstandeten Ausruf, fragt sich selbst, ob seine Verteidigung zwingend ist. Liebe sei es, hört er sich sagen, die zu derartigen Tröstungen greift . . .
Gebetsmühlengeklapper. Warum nicht still und aufmerksam diese schmale Straße gehn, zwischen den niedrigen Fachwerkhäusern, vor denen die alten Frauen sitzen, schwatzen, stricken. Warum immer recht haben wollen.
Die Bettine erklärt den freien, uneingeschränkten – nicht verantwortungslosen! – Lebensgenuß für das einzige Gesetz, dem man sich unterwerfen dürfe.
Kleist dagegen, mißbehaglich: Nein. Man müsse schon durch die Wissenschaften hindurchgegangen sein, ehe man sich erlauben dürfe, sie zu schmähen.
Die Wissenschaften? Die sich daran machen, uns eiserne Reifen um Herz und Stirne zu schmieden? Die uns ein eisernes Jahrhundert vorbereiten, in dem die Kunst vor fest verschlossenen Türen stehen, der Künstler ein Fremdling sein wird?
Diese Übereinstimmung nun wieder. Jetzt fehlt noch, daß jemand Fortschritt sagt.
Den Part übernimmt Lisette. Rousseaus berühmte Untersuchung,ob der Fortschritt von Wissenschaft und Kunst auf die Sitten verderblich oder wohltätig gewirkt habe.
Wir kennen alle alles.
Kleist hat die Vision eines Zeitalters, das sich auf Gerede gründet anstatt auf Taten. Die Landschaft versinkt ihm, nüchternes Licht. Und da sitzen wir immer noch und handeln mit den Parolen des vergangenen Jahrhunderts, spitzfindig und gegen unsre stärkere Müdigkeit ankämpfend, und wissen: Das ist es nicht, wofür wir leben und worum wir sterben könnten. Unser Blut wird vergossen werden, und man wird uns nicht mitteilen, wofür.
Eine Wildheit in Kleist, die ihn erschreckt und freut.
Die Wege von Wissenschaft und Kunst haben sich getrennt, so redet er, lahm genug. Der Gang unsrer heutigen Kultur geht dahin, das Gebiet des Verstandes mehr und mehr zu erweitern, das Gebiet der Einbildung mehr und mehr zu verengen. Fast kann man das Ende der Künste errechnen.
Nees von Esenbeck, als Naturwissenschaftler, fühlt sich angegriffen, er spricht nicht, er doziert: So halte ich dafür, daß der Geist der Zeit, der Fortschritt der Wissenschaften über das vielleicht begreifliche, doch hypochondrische Lamento der Herren Literaten hinwegweht. Nehmen Sie’s nicht persönlich, lieber Kleist. Was mich betrifft: Ich gäbe mein Alles dafür, wenn ich in ein, zwei Jahrhunderten noch einmal auf dieser Welt leben und an den paradiesischen Zuständen teilhaben
Weitere Kostenlose Bücher