Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
meinem steifbeinigen Gestolpere, so dass ich es ohne zu stürzen schaffte. Ich blieb so lange unter dem Strahl stehen, bis es kein warmes Wasser mehr gab. Es half, die Schmerzen zu lindern, wenn auch nur minimal.
Tyrese suchte mir einen Jogginganzug aus violettem Velourssamt heraus, wie Al-Sharpton ihn in den Achtzigern getragen hatte. Fast hätte ich ihn um eine Goldkette mit einem riesigen Goldmedallion gebeten.
»Wo wollen Sie jetzt hin?«, erkundigte er sich.
»Erst mal zu meiner Schwester.«
»Und dann?«
»Zur Arbeit, denke ich.«
Tyrese schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte ich.
»Sie haben da ein paar üble Typen gegen sich aufgebracht, Doc.«
»Ist mir auch schon aufgefallen.«
»Bruce Lee lässt sich das bestimmt nicht so ohne weiteres gefallen.«
Ich dachte darüber nach. Er hatte Recht. Selbst wenn ich wollte, hätte ich nicht einfach nach Hause gehen und darauf warten können, dass Elizabeth wieder mit mir in Kontakt trat. Außerdem hatte ich die Schnauze voll von der Passivität: Freundliche Gelassenheit stand einfach nicht mehr auf dem Plan. Ebenso wichtig war jedoch, dass die Männer aus dem Lieferwagen die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen und mich fröhlich meiner Wege ziehen lassen würden.
»Ich halt Ihnen den Rücken frei, Doc. Zusammen mit Brutus. Bis alles vorbei ist.«
Ich wollte schon etwas Heldenhaftes von mir geben wie Das kann ich nicht annehmen. Doch wenn man auch nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachdachte, kam man zu dem Schluss, dass sie entweder auf mich aufpassen oder Drogen verkaufen konnten. Tyrese wollte - musste vielleicht sogar - helfen, und wenn ich ehrlich war, brauchte ich seine Hilfe. Ich konnte ihn warnen, ihm klar machen, was für ein Risiko er damit einging, wobei er sich mit dieser Sorte Gefahren weit besser auskannte als ich. Am Ende akzeptierte ich sein Angebot mit einem Nicken.
Der Anruf vom National Tracing Center erreichte Carlson früher als erwartet.
»Wir haben es schon«, sagte Donna.
»Wieso?«
»Schon mal was von IBIS gehört?«
»Ja, gerüchteweise.« Er wusste, dass IBIS für Integrated Ballistic Identification System stand, ein neues Computerprogramm, mit dem das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms Daten über Kugeln und Patronenhülsen speicherte. Es war Teil des neuen Ceasefire-Programms des ATF, mit dem die Waffen im Land besser kontrolliert werden sollten.
»Wir brauchen die Originalkugel gar nicht mehr«, fuhr sie fort. »Die haben einfach vor Ort die Bilder eingescannt und zu uns geschickt. Wir haben die hier digitalisiert und auf dem Bildschirm verglichen.«
»Und?«
»Sie hatten Recht, Nick«, sagte sie. »Sie stimmen überein.«
Carlson trennte die Verbindung und wählte eine andere Nummer. Als der Mann am anderen Ende antwortete, fragte er: »Wo ist Dr. Beck?«
39
Auf dem Gehweg stieß Brutus zu uns. Ich sagte: »Guten Morgen.« Er antwortete nicht. Noch immer hatte ich den Mann nicht sprechen gehört. Ich setzte mich auf den Rücksitz. Tyrese nahm grinsend neben mir Platz. Erst gestern Abend hatte er einen Menschen umgebracht. Er hatte mir damit zwar das Leben gerettet, aber so unbekümmert, wie er sich verhielt, hätte ich nicht einmal sagen können, ob er sich noch daran erinnerte, den Abzug gedrückt zu haben. Eigentlich hätte ich besser als jeder andere verstehen müssen, was in ihm vorging, tat es aber nicht. Ich bin kein Freund unantastbarer moralischer Grundsätze. Ich sehe da durchaus Grautöne. Und ich fälle meine Urteile selbst. Elizabeth hatte eindeutigere Moralprinzipien gehabt. Sie wäre entsetzt gewesen, dass ein Leben ausgelöscht worden war. Dabei hätte es sie nicht interessiert, dass das Opfer mich hatte entführen, foltern und danach wahrscheinlich umbringen wollen. Oder doch? Ich bin mir nicht mehr sicher. Die bittere Wahrheit ist, dass ich nicht alles über sie wusste. Und sie wusste ganz sicher nicht alles über mich.
Im Zuge meiner Ausbildung war mir beigebracht worden, moralische Urteile nie zur Grundlage meines Handelns zu machen. Da zählt nur die Triage: Diejenigen, die am schwersten verletzt sind, werden als Erste behandelt. Egal wer sie sind oder was sie getan haben, man kümmert sich immer zuerst um den, dessen Leben am stärksten bedroht ist. Das ist eine reizende Theorie, deren Notwendigkeit mir durchaus einleuchtet. Aber wenn, sagen wir, mein Neffe Mark mit einer Stichwunde eingeliefert werden würde und der pädophile Serientäter, der ihm diese Wunde
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