Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
ist?«
»Ja.«
»Was genau stand in der E-Mail?«
Ich verstand nicht, warum Shauna mir all diese Fragen stellte. Außer dem schon Gesagten galt für Shauna, dass sie sich stets für das große Ganze interessierte. Details waren nicht ihre Stärke; die trübten nur das Bild und verwirrten sie. »Sie wollte sich gestern Nachmittag um fünf am Washington Square Park mit mir treffen«, sagte ich. »Sie hat mich gewarnt, dass ich beobachtet werde. Und dann hat sie noch geschrieben, dass sie mich liebt, egal was auch geschieht.«
»Und deshalb bist du geflohen?«, fragte sie. »Um das Treffen nicht zu verpassen?«
Ich nickte. »Hester meinte, ich würde frühestens um Mitternacht auf Kaution freikommen.«
»Warst du rechtzeitig im Park?«
»Ja.«
Shauna trat einen Schritt näher an mich heran. »Und?«
»Sie ist nicht aufgetaucht.«
»Und trotzdem bist du noch immer davon überzeugt, dass diese E-Mail von Elizabeth ist?«
»Eine andere Erklärung gibt es nicht«, beharrte ich.
Sie lächelte, als ich das sagte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Erinnerst du dich noch an meine Freundin Wendy Petino?«
»Eine Kollegin von dir«, sagte ich. »Mehr Schrauben locker als an meinem alten Fahrrad.«
Shauna lächelte über meine Beschreibung. »Sie hat mich einmal zu einem Abendessen mit ihrem« - sie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft - » spirituellen Guru eingeladen. Sie behauptete, er könne Gedanken lesen, die Zukunft vorhersagen und lauter solches Zeug. Er hat ihr geholfen, mit ihrer toten Mutter Kontakt aufzunehmen. Wendys Mutter hatte Selbstmord begangen, als Wendy sechs Jahre alt war.«
Ich ließ sie reden, unterbrach nicht mit der nahe liegenden Frage: Worauf willst du hinaus? Shauna ließ sich Zeit, doch ich wusste, dass sie irgendwann auf den Punkt kommen würde.
»Wir sind also fertig mit dem Essen. Der Kellner bringt uns Kaffee. Wendys Guru - er hieß Omay oder so - starrt mich mit seinen strahlenden, durchdringenden Augen an, du kennst diese Blicke, und erzählt mir dann, er spürt - das sagt er so, er spürt -, dass ich skeptisch sei und dass ich meine Meinung sagen solle. Du kennst mich. Ich erzähl ihm also, dass er ein Scheißkerl ist und ich die Schnauze voll davon habe, wie er meine Freundin über den Tisch zieht. Omay wird natürlich nicht wütend, was mich dann endgültig ankotzt. Er gibt mir jedenfalls eine kleine Karte und sagt, ich solle etwas draufschreiben - irgendetwas, das wichtig ist in meinem Leben, ein Datum, die Initialen eines Freundes oder einer Freundin, was ich will. Ich schau mir die Karte an. Sie sieht aus wie eine ganz normale weiße Karte. Trotzdem frag ich ihn, ob ich eine von meinen nehmen kann. Er sagt, dass es ihm egal ist. Ich nehme also eine von meinen Visitenkarten und drehe sie um. Er gibt mir einen Kugelschreiber, aber wieder beschließe ich, meinen eigenen zu nehmen - falls es ein Trickkugelschreiber ist oder sonst irgendetwas, das ich nicht kenne, okay? Das stört ihn auch nicht. Dann habe ich deinen Namen aufgeschrieben. Nur Beck. Er nimmt die Karte. Ich behalte seine Hand im Auge, achte darauf, dass er sie nicht umdreht oder so was, er reicht die Karte aber bloß weiter an Wendy. Er bittet sie, darauf Acht zu geben. Dann nimmt er meine Hand. Er schließt die Augen, fängt an zu zittern, als hätte er einen Anfall, und ich schwöre, dass ich gespürt habe, wie etwas durch mich hindurchströmt. Und dann macht Omay die Augen auf und fragt: ›Wer ist Beck?‹«
Sie ließ sich aufs Sofa fallen. Ich setzte mich neben sie.
»Tja, also ich weiß, dass manche Menschen sehr fingerfertig sind und so weiter, aber ich war dabei. Ich hatte ihn nicht aus dem Auge gelassen. Und beinah hätte ich es ihm abgenommen. Omay hatte besondere Fähigkeiten. Es gab, wie du gesagt hast, keine andere Erklärung. Wendy saß mit so einem zufriedenen Lächeln im Gesicht neben mir. Ich hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte.«
»Er hat vorher über dich recherchiert«, sagte ich. »Er wusste von unserer Freundschaft.«
»Nichts für ungut, aber wäre er nicht davon ausgegangen, dass ich Lindas Namen oder den meines Sohnes aufgeschrieben hätte? Woher sollte er wissen, dass ich mich für dich entscheide?«
Da war was dran. »Und jetzt glaubst du also an seine übersinnlichen Fähigkeiten?«
»Beinahe, Beck. Ich sagte, ich hätte es ihm beinah abgenommen. Der gute alte Omay hatte Recht. Ich bin skeptisch. Es deutete zwar alles darauf hin, dass er ein Medium war,
Weitere Kostenlose Bücher