Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
aus der Tasche. Vorbereitung. Das war der Schlüssel für ihr Überleben. Sie war immer auf alle Eventualitäten vorbereitet. Darum hatte sie sich diesen Treffpunkt ausgesucht, einen öffentlichen Park, in dem sie sich so gut auskannte, dass sie im Vorteil war. Sie hatte diese Möglichkeit nicht wahrhaben wollen, hatte jedoch trotzdem die ganze Zeit gewusst, dass sie bestand - sogar mehr als das, dass sie die wahrscheinlichste war.
Es war vorbei.
Der kleine Spalt, wenn sich denn wirklich einer aufgetan hatte, war wieder geschlossen.
Zeit zu gehen. Allein. Und diesmal für immer.
Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn sie nicht erschien. Würde er seinen Computer nach E-Mails durchforsten, die nie kamen? Würde er die Gesichter von Fremden betrachten und sich vorstellen, es wäre ihres? Würde er das Ganze einfach vergessen und weiterleben, als wäre nichts geschehen - und, wenn sie tief in ihre geheimsten Gefühle hineinhorchte, wäre ihr das recht?
Egal. Das Wichtigste war das Überleben. Zumindest seins. Sie hatte keine Wahl. Sie musste weg.
Unter größter Anstrengung riss sie ihren Blick von ihm los und rannte die Treppe hinab. Es gab einen Hinterausgang auf die West 3 rd Street, sie brauchte den Park also gar nicht zu betreten. Sie drückte die schwere Metalltür auf und trat hinaus. Ein paar Meter die Donovan Street hinab, an der Ecke Bleeker Street, stieg sie in ein Taxi.
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Wohin?«, fragte der Fahrer.
»John-F.-Kennedy-Airport«, sagte sie.
30
Zu viel Zeit verging.
Ich blieb auf der Bank sitzen und wartete. In der Ferne sah ich den berühmten Washington Arch. Stanford White, der prominente Architekt der Jahrhundertwende, der in einem Anfall von Eifersucht wegen eines 15-jährigen Mädchens einen Menschen umgebracht hatte, hatte den Marmorbogen angeblich entworfen. Ich verstand das nicht. Wie kann man etwas entwerfen, das eine perfekte Nachbildung von etwas anderem ist? Die Tatsache, dass der Washington Arch ein reines Plagiat des Pariser Arc de Triomphe ist, war nie ein Geheimnis. Die New Yorker begeisterten sich für etwas, das im Prinzip ein reiner Nachbau war. Und ich verstand einfach nicht, wieso.
Man konnte den Marmorbogen nicht mehr anfassen. Ein Maschendrahtzaun, ganz ähnlich denen, die ich eben in der South Bronx gesehen hatte, sollte Graffiti-Künstler fern halten. Es gab viele Zäune im Park. Fast alle Rasenflächen waren eingezäunt - die meisten sogar doppelt.
Wo war sie?
Tauben schritten mit einer Großspurigkeit herum, die man gemeinhin mit Politikern in Verbindung brachte. Viele trippelten auf mich zu. Sie pickten an meinen Turnschuhen und schienen enttäuscht zu sein, dass die nicht essbar waren.
»Da sitzt Ty sonst immer.«
Das sagte ein Obdachloser mit einem Windrad an der Mütze und Spock-Ohren. Er saß mir gegenüber.
»Aha«, sagte ich.
»Ty füttert sie. Sie mögen Ty.«
»Aha«, wiederholte ich.
»Darum kommen sie zu Ihnen. Nicht weil sie Sie mögen oder so. Sie glauben, dass Sie Ty sind. Oder ein Freund von Ty.«
»Hmh.«
Ich sah auf die Uhr. Jetzt saß ich schon fast zwei Stunden hier. Sie kam nicht. Irgendetwas war schief gegangen. Wieder fragte ich mich, ob das alles nur ein Trick gewesen war, schob den Gedanken jedoch sofort beiseite. Es war besser, davon auszugehen, dass die Nachrichten von Elizabeth stammten. Wenn das alles nur ein Trick gewesen war, würde ich es noch früh genug erfahren.
Was auch geschieht, ich liebe dich …
Das hatte in der Nachricht gestanden. Was auch geschieht. Als könnte etwas schief gehen. Als könnte etwa dazwischenkommen. Als sollte ich das Ganze dann einfach vergessen und mein Leben weiterleben.
Scheiß drauf.
Es kam mir seltsam vor. Ja, ich war am Boden zerstört. Die Polizei war hinter mir her. Ich war erschöpft, verletzt und nahe davor, den Verstand zu verlieren. Trotzdem fühlte ich mich stärker, als ich mich seit Jahren gefühlt hatte. Ich wusste nicht, warum. Aber ich wusste, dass es so bleiben sollte. Elizabeth war die Einzige, die all diese Dinge kannte - Kusszeit, die Bat Lady, die Teenage Sex Poodles. Also hatte Elizabeth mir diese E-Mails geschickt. Oder jemand hatte Elizabeth dazu gebracht, sie mir zu schicken. In beiden Fällen war sie am Leben. Dem musste ich nachgehen. Es gab keine andere Möglichkeit.
Also was jetzt?
Ich zog das Handy aus der Tasche. Eine Minute lang rieb ich mir das Kinn, und dann hatte ich eine Idee. Ich tippte die Nummer ein.
Weitere Kostenlose Bücher