Kein Wort mehr ueber Liebe
Mann, Deinen Kindern, diesem anderen Leben, in dem ich nicht bin, und Du greifst mit einer natürlichen Bewegung nach meiner Hand, eine Geste, die sowohl von Deiner Liebe als auch von Deiner Unsicherheit spricht.
SECHSUNDDREISSIG
Es ist ein Samstag Ende Oktober: Ich gehe über den Friedhof Père Lachaise, die Touristen stromern zwischen den Gräbern umher, verlieren sich in den Alleen. Ich nähere mich langsam dem Krematorium.
Unter der Zinkkuppel verbrennt der Körper von Hugues Léger. Ich schreibe diesen Satz in seiner ganzen außerordentlichen Gewaltsamkeit. Ich sehe Dich vor mir, stumm, versteinert, angesichts dieses zweiten und endgültigen Verlöschens von Hugues. Ich bin gekommen, um da zu sein, an DeinerSeite, ohne Dich vorher gefragt zu haben. Ich habe die Initiative ergriffen, es schien mir das Richtige zu sein. Ich setze mich auf eine Bank, ich schreibe Dir eine SMS, ich warte.
Aus Gründen, die mir damals noch unerfindlich sind, empfinde ich zu Hugues Léger, der nicht mehr ist, eine Nähe, die nichts Morbides an sich hat: Der Tod kann mich nicht faszinieren, aber sein Selbstmord berührt mich. Ohne mich vermessen zu fühlen, wage ich es gar zu sagen, dass er mich erschüttert. Ich habe seine Bücher in den vergangenen Tagen gelesen oder nochmals gelesen. Ich kenne unsere Unterschiede; was uns verband, erscheint mir deutlich. Sollte der schönste Tag meines Lebens auch für mich schon Vergangenheit sein?
Auf dieser Bank wird mir zur wirklich traurigen Gewissheit, dass ich für immer an einer Freundschaft vorbeigegangen bin, an einer Freundschaft mit dem Mann und dem Schriftsteller, und dass es Dir gefallen hätte, wenn wir Freunde geworden wären.
Du scheinst in dieser Erinnerung nicht aufzutreten, und doch bin ich Deinetwegen, nur Deinetwegen, hier, auf dieser Bank.
SIEBENUNDDREISSIG
Du schläfst, ich nicht. Du bist in meinen Armen eingeschlafen, ohne Dich ganz von mir zu verabschieden, aber jetzt schläfst Du schon tief und fest.
Auf den Ellbogen aufgestützt, den Kopf in der Hand, betrachte ich Dich. Deine Augen sind geschlossen, Dein Mund halb geöffnet, und auf Deinen Lippen liegt dieses ganz sanfte und seltene Lächeln, das – was keine bloße Redewendung ist – nur Dir gehört. Du bist schön, frei. Gedanken schießen mir durch den Kopf: Wovon träumst Du? Wo bist Du in diesem Augenblick? Wer bist Du, dass ich so viel Angst habe, Dich zu verlieren, warum habe ich einen so starken Wunsch, Dich nur für mich zu haben, warum bin ich so sicher, dass Du niemals ganz mir gehören wirst?
Ich schäme mich für diesen Besitzanspruch, den ich nicht kontrolliere. Er offenbart in mir den Schrecken, den die Freiheit weiblichen Verlangens bei den Männern auslöst. Ich mag dieses stumpfsinnige Tier nicht, das von der Angst, dass Du mich eines Tages nicht mehr begehren könntest, aufgeweckt wird. Ich wäre gerne gelöst, frei von Zweifel.
Ich lege mich auf den Rücken, der Schlaf will nicht kommen.
ACHTUNDDREISSIG
Bleib noch zwei Minuten dran, sagst Du. Wir haben uns getrennt, um uns nie wiederzusehen. Einmal mehr. Und doch hat mein Handy geklingelt, das warst Du, wir haben gesprochen – wahrscheinlich nur, um die Stimme des anderen ein letztes Mal zu hören. Ich wollte auflegen: »Bleib noch zwei Minuten dran.« Na gut, ich bleibe noch zwei Minuten dran.Ich spreche nicht, Du auch nicht, ich höre nur von Zeit zu Zeit Deinen Atem. Mehr als jedes gesprochene Wort überwältigt mich Deine Atmung. Die Zeit vergeht, ich gehe die Straße hinauf, komme vor meinem Haus an, trete ein, bleibe aber, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, in der Eingangshalle stehen. Wir schweigen immer noch. Lange Zeit. Ich bin mir sicher, dass Du Dich, wie ich, mit diesem Schweigen, in dem wir noch zusammen sind, vollsaugst – in Vorausahnung jenes anderen, in dem wir es nicht mehr sein werden.
NEUNUNDDREISSIG
Ja, dieses kleine Werk kommt zu seinem Ende, die Zeit des Bedauerns ist angebrochen. Ich hatte mir vorgenommen, kurz und strikt zu sein, aber erinnere Dich: eine SMS, die mir ankündigt, dass Du vier Dinge tun willst (das erste war, Dir die Ohrläppchen durchbohren zu lassen); ich, der ich bei der ersten (und einzigen) Begegnung mit Deinen Eltern fast wie ein Jugendlicher dastand; Dein kleiner Sohn, der mich bei Lucs Konzert zum Zeichen der Begrüßung schlägt; Du, wie Du an unserem ersten Tag hinterm Steuer Deines Wagens diesen vieldeutigen Satz aussprichst: »Du bindest Dich nicht fest?«, als Du siehst, dass
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