Kein Wort mehr ueber Liebe
etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen gibt. Aber zunächst erzählt Anna ihm vom gestrigen Abend, den sie bei Freunden verbracht hat. Sie redet vom Urkommunismus, von einem Buch über Kindererziehung, das man schreiben müsste, und Yves betrachtet sie mehr, als dass er ihr zuhörte. Er schaut sie an und stellt sich Fragen über seine eigenen Gefühle, über sein Verlangen, über die Trennlinie zwischen Illusion und Wahrheit. Er weiß, dass sie ihn verlassen wird, jetzt, da ihm alles so glasklar erscheint.
Anna spricht von ihrem Mann, den »unvergänglichen« – dieses Adjektiv benutzt sie – Banden zwischen ihnen, und plötzlich sagt sie:
– Yves, ich werde es niemals schaffen, Yves zu verlassen.
Yves grinst über den Lapsus, aber es ist ihm natürlich klar, dass sie Yves sehr wohl wird verlassen können.
Er wiederholt nicht, was schon tausendmal gesagt worden ist. Vielleicht würde es ihm ja hier und jetzt gelingen, es noch besser zu formulieren, aber wozu? Man kann nicht Tag für Tag stets neue Umschreibungen drehen und wenden.
Trotzdem sagt er ihr:
– Du verlässt mich, weil du dich nie dazu durchringen konntest, uns das Almosen einer Zukunft zu schenken. Es gibt eine unsichtbare Wand, gegen die du immer wieder gestoßen bist, wie ein Schmetterling, der gegen eine Fensterscheibe fliegt. Ich hätte es wissen müssen, die Zukunft war nicht für mich bestimmt: In jedem deiner Briefe hast du sie in den Konjunktiv gesetzt.
Anna sagt nichts, Yves fährt fort:
– Du hast auf ein Zeichen aus den Wolken, einen Blitz aus heiterem Himmel gewartet, auf – was weiß ich – einen Appell des ganzen Universums, der dir die absolute Notwendigkeit bedeutet hätte, mit mir zu leben. Dieses Zeichen ist nicht eingetroffen, und es wird nie eintreffen. Nichts wird kommen, und deshalb muss ich gehen, so einfach ist das.
Sie erheben sich, er macht kein Drama daraus, er hat nie eines gemacht. Das Café, in dem sie zu Mittag essen, heißt »Der Horizont«. Er weist sie lediglich auf die Ironie des Namens hin. Er reicht ihr einen Umschlag.
– Hier. Ich habe eine Villanella geschrieben.
– Eine was?
– Ein Gedicht, eine Art Ritornell, in dem die Verse eins und drei sich wiederholen … Du kannst es später lesen.
Vorsichtig steckt sie den Umschlag in ihre Handtasche. Anna träumt von einem Mann, der mit einem einzigen Brief dem Schicksal einer Frau für immer eine andere Richtung zu geben verstünde. Gerade diese Hoffnung will Yves auf keinen Fall schüren.
Nun, da sie zu ihrem Auto gehen, da sie sich wirklich getrennt haben, ist das Glück, noch in Annas Nähe zu sein, so groß, dass er es bis zum letzten Augenblick behütet, dass es ihm untersagt, vollkommen unglücklich zu sein. Ein kurzes Streicheln der Hand, ein Kuss auf die Wange, und immer noch ihr Parfüm. Das wird seine letzte sinnliche Erinnerung an Anna Stein sein. Als er sich von ihr abwendet, sich von ihr entfernt, zerreißt ihn die Trauer, frisst sich die Leere in ihn hinein.
Truman Capote war nicht in der Lage,
Kaltblütig
zu beenden, solange das Todesurteil an Perry Smith und Dick Hickock noch nicht vollstreckt war. Er ist nicht in der Lage, weiter am
Abchasischen Domino
zu arbeiten, solange ihre Geschichte andauert. Dieses Buch, das von ihnen handelt, wird er im Präsens schreiben. Das Präsens war ganz entschieden ihre Zeit, sie waren
präsent
. Das Wort bedeutet natürlich auch Geschenk. Es wird eines sein.
Hinter ihm hat Anna sich, ohne dass er es bemerkt hätte, umgeschaut. Sie beobachtet, wie er sich entfernt. In der Vitrine, zwei Schritte von ihr entfernt, hängt ein hübsches, kurzes, dekolletiertes Kleid aus blauer Baumwolle, mit gerafften Ärmeln und einem hauchdünnen Volant aus dunkelblauem Tüll. Yves biegt an der Ecke ab, Anna hat so große Lust zu weinen, dass sie in die Boutique geht. Sie probiert das Kleid an. Es steht ihr richtig gut.
THOMAS UND PIETTE
Auf dem einzigen Foto, das Thomas von Piette aufbewahrt hat, sind ihre Beine für immer lang und gebräunt. Die anderen Aufnahmen, die er von ihr gemacht hat, darunter auch diese Nacktaufnahmen, für die sie gerne Modell stand, hat Thomas im Kamin verbrannt. Bevor er sie ins Feuer warf, hat er jedes einzelne Foto leise beschrieben: »Piette auf einer Steinbank sitzend, nackt, mit aufgestellten Fußspitzen, gespreizten Oberschenkeln, ihr Geschlecht ist sehr gut zu sehen, die Ellbogen sind auf die Knie, der Kopf in die Hände gestützt, sie schaut lachend in die Linse« … Oder auch:
Weitere Kostenlose Bücher