weiß –, und da ist mir alles klar geworden.
– Was stimmte denn nicht mehr, Mama?, fragt Judith weiter.
– Zum Beispiel wollten euer Papa und ich zusammen kein weiteres Kind mehr, aber ich hatte trotzdem noch Lust auf ein Baby.
– Du hast Lust auf ein Baby, Mama?, wiederholt Judith.
– Ja, ganz große Lust. Euer Papa kann in fünf oder zehnJahren noch eins kriegen. Aber ich bin eine Frau, das ist nicht dasselbe. Ich bin vierzig, und wenn ich nicht bald eins bekomme, kann ich überhaupt keins mehr kriegen, weil ich zu alt bin, und dann wäre ich furchtbar traurig. Versteht ihr das, Kinder?
– Ja, Mama, sagt Judith sehr konzentriert.
Maud nickt. Louise trinkt eine Tasse Tee.
– Na ja, ich glaube, wir haben es geschafft, Thomas und ich. Wir werden sehr bald alle zusammen in ein größeres Haus umziehen müssen. Ich bin schwanger. Ich habe ein Baby im Bauch.
Thomas schaut Louise entgeistert an. Sie hatte ihm nichts gesagt. Sie küsst ihn sanft auf die Schläfe, nimmt Judith auf den Schoß.
– Ich weiß es seit genau drei Minuten. Ich bin eben in die Apotheke gegangen, um einen Test zu kaufen.
– Und sagt der Test auch, ob das Baby ein Schwesterchen oder ein Brüderchen wird?, fragt Maud.
– Nein, mein Liebling. Er zeigt einfach nur an, dass ich schwanger bin. Und ich bin sehr froh darüber. Das Baby kommt in siebeneinhalb Monaten zur Welt.
– Im September?, fragt Thomas.
Louise nickt.
– Sag mal, Mama, fragt Judith ganz besorgt.
– Ja, mein Häschen. Ich höre.
– Sag mal, könnte ich noch eine Zuckerwaffel haben?
ANNA
An der weißen Wand von Karls und Léas Kinderzimmer drehen sich Drachen und Hexen, Sternschnuppen und Planeten im Kreise. Unter allen anderen mit Blumen- und Tiermotiven hat Léa diese Nachtlampe ausgesucht. Anna war eher dagegen, aber Léa hatte sie daran erinnert, dass Drachen und Hexen nicht wirklich existieren, dass man davor keine Angst zu haben braucht, und die Rationalität dieses Arguments hatte ihre Mutter überzeugt.
– Ihr müsst jetzt schlafen, Kinder, sagt Anna.
Aber Karl und Léa sind nicht müde. Léa hüpft auf dem Bett herum und verlangt eine Geschichte. Anna nimmt die große illustrierte Ausgabe von
Alice im Wunderland
aus dem Regal. Sie liest einige Minuten lang. Léa schläft als Erste ein, sie atmet friedlich. Für Karl liest sie noch ein wenig weiter. Mitten auf der Seite grinst eine große rote Katze.
– Da kommt Alice, liest Anna mit sanfter Stimme, an eine Weggabelung und sieht die Grinsekatze, die in einem Baum sitzt. Sie fragt sie sofort:
– Welchen Weg muss ich nehmen?
– Wohin willst du gehen?, entgegnet die Katze.
– Ich weiß es nicht, antwortet Alice.
– Dann, sagt die Katze, ist es ohne Bedeutung.
Karl ist eingeschlafen. Eine blaue Hexe schwingt sich auf ihrem Besen Richtung Türe, als Anna das Licht ausschaltet.
Ja, überlegt Anna, die Katze hat Recht. Wenn man nicht weiß, wohin man gehen will, ist der Weg ohne Bedeutung.
ROMAIN
From:
[email protected] To:
[email protected] Subject: associate professor
Pr. Daniel P Reynolds
Leland Stanford Junior University
Dpt. of Developmental Biology
Dear Daniel,
ich freue mich sehr, Dir heute mit dieser raschen Mail bestätigen zu können, dass ich sehr gerne für sechs Monate die Stelle als Associate Professor annehmen und die Leitung des Projekts
HumanL@nguage
übernehmen möchte, von der wir in Stockholm gesprochen haben.
In meiner nächsten Mail gebe ich Dir die Daten der Wochen, in denen ich nach Frankreich zurückreisen werde, damit die Stundenpläne in der Universität ab sofort entsprechend angepasst werden können. Mit John habe ich bereits die Fragen betreffend meine Unterbringung besprochen. Ich habe geplant, nächste Woche anzureisen, um meine ersten Vorlesungen abzuhalten.
Ich freue mich schon darauf, zusammen mit John und Marina in Deinem Team zu arbeiten.
Mit sehr herzlichen Grüßen
Romain Vidal
YVES UND ANNA
Am Métro-Ausgang Rennes hält Yves Ausschau nach Anna. Er sieht sie nicht. Sie steht ganz einfach auf dem gegenüberliegenden Trottoir. Sie wundert sich, dass er sie nicht gesehen hat. Das bedeutet, dass seine Augen schlechter sind, als sie gedacht hätte.
Sie spazieren bis zu einem Café, wo sie sich auf der Terrasse niederlassen. Yves mag keine Terrassen, denn unter dem Vorwand, den Blicken ausgesetzt zu sein, gibt Anna sich dort immer distanziert, unberührbar. Es ist von vornherein klar, und sie wissen es beide, dass es