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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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»Piette in der Badewanne, das Kinn liegt auf dem weißen Emailrand, ihr Po taucht aus dem Schaum auf, und auch ein Fuß.«
    Die Flammen haben nichts übrig gelassen. Dieses eine Foto, das Thomas nicht hat verbrennen wollen, soll alle Piettes in sich vereinen. Sie liegt ausgestreckt auf dem Bett, in einem weißen Baumwollkleid, ein Fuß baumelt in der Luft, und sie liest die Rede, die ein Freund anlässlich ihrer Verlobung geschrieben hat. Das war keine echte Verlobung, aber Piette hatte es groß aufgezogen und fünfzig Freunde in das provenzalische Landhaus ihrer Eltern eingeladen.
    Der Sommer ist früh angebrochen, es geht eine warme Brise, und der Himmel ist, wie es sich gehört, himmelblau. Auf dem großen Tisch stehen Körbe mit Früchten, Aprikosen, Kirschen, die ersten Pfirsiche.
    – Komm, flüstert Piette Thomas ins Ohr, als der Kaffee serviert wird.
    In den wenigen Tagen in der Provence hat ihre Haut Farbe bekommen, ihr Haar ist heller geworden, und Nase und Schultern sind mit Sommersprossen übersät. Sie ist schwanger: Unter dem Kleid sind ihre kleinen Brüste schwerer und fester, die Brustwarzen größer geworden, und sobald sie allein sind, streichelt Thomas sie gerührt. Die Engel haben ein Geschlecht und Brüste.
    – Komm, wiederholt Piette.
    Sie nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn auf einen Weg zwischen den Zypressen. Er führt zu einem kleinen, fast ausgetrockneten Bach, der über große Kalksteinplatten fließt. Lange spazieren sie inmitten von Barbarakraut, Levkojen, Zylinderputzer. Piette kennt die Namen aller Pflanzen. An der Wegbiegung ergießt sich der Bachlauf in ein gekacheltes Becken im römischen Stil.
    – Als ich klein war, bin ich immer hierhergekommen, sagt Piette. Ich habe Aquarelle gemalt. Ich habe immer nur Raupen, Hundertfüßer und Pillendreher gezeichnet, kannst du dir das vorstellen?
    Ja, Thomas zweifelt keine Sekunde daran. Kein Mädchen auf der Welt ist seltsamer als seine Piette. Später wird er einen Hirschkäfer einrahmen, den sie mit dreizehn Jahren gezeichnet hatte.

    – Glaubst du, dass wir glücklich sein werden, Thomas? Erzähl unser Leben, erzähl.
    Thomas erzählt. Die Geburt von Daniel (oder Claire), die durchwachten Nächte, in denen sie im Halbdunkel plaudern, sich lieben, sich darüber streiten, wer dran ist mit dem Fläschchengeben, die ersten Schritte, die ersten Worte, auch dass sie gemeinsam alt werden, ohne sich zu fürchten. Er spricht von den Hochhäusern aus Glas und Stahl, die Piette, die große Architektin, in London, Berlin und Tokio bauen wird. Piette sagt: »Und auch Métros, Thomas, ich möchte Métros bauen.« Métros. Einverstanden.
    Piette hat sich ins trockene Gras gelegt, ihre Augen sind geschlossen, damit sie Thomas besser zuhören kann, wie er mit seiner sanften und warmen Stimme die Jahre ablaufen lässt, die sich ankündigen. Er sagt: »Wir werden verreisen, wir werden unsere Kinder auf die griechischen Inseln mitnehmen.« Piette fragt: »Wirst du ihnen die
Odyssee
vorlesen?«, »Wirst du ihnen die Delfine zeigen und die fliegenden Fische?«, »Werde ich Claire im Ägäischen Meer das Schwimmen beibringen?« Ja, ja, antwortet Thomas jedes Mal.
    Dann steht Piette wieder auf, sie gehen um das Bassin herum, Piette umschlingt Thomas. Das Wasser fließt über einenAuslauf im Beckenrand ab. Sie folgen dem Bachlauf bis zur Strauchheide und einem steinernen Aquädukt, eine Art Pont du Gard im Kleinformat.
    Der Aquädukt führt über eine kleine Unwetterschlucht und leitet das Wasser bis zur großen Zisterne von Saint-Anselme de Montaîgu. Die Brücke ist viel zu schmal, um darauf aneinander vorbeigehen zu können, sechs oder sieben Meter tiefer die weißen Felsen. Piette hat sich auf der Brustwehr ein paar Meter weit vorgewagt. Thomas ist stehen geblieben, er streckt die Hand nach ihr aus, aber sie ist schon zu weit entfernt.
    – Hör auf, Piette. Das ist gefährlich.
    Sie dreht sich um, steht auf der steinernen Brücke, die Füße ganz nah am Abgrund. Ihre Stimme ist sanft, und gerade diese Sanftheit erschreckt Thomas.
    – Glaubst du, dass ich unser Kind erziehen kann, unsere Kinder? Ich bin krank, wie du weißt.
    – Ich weiß, Piette.
    Ja, Thomas weiß. Manisch-depressive Psychose, bipolare Störung, Hypomanie, Zyklothymia, er hat all diese Begriffe mit Piette gelernt. Er kennt auch jedes Etikett auf den Schachteln in diesem kleinen Koffer, der sie überallhin begleitet, Lithiumnitrat, Lamotrigin, Benzodiazepin und viele andere mehr.
    –

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