Keine Angst vor Anakondas
Jörg und blicke auf die anscheinend friedlich dösende Anakonda vor uns.
»Wieso denn nicht?«, fragt Jörg. »Sie dürfte zumindest groß genug sein, um einen nicht allzu großen Menschen zu verschlingen. Außerdem wird dir aufgefallen sein, dass die Indianer um einiges kleiner und leichter sind als die Menschen unserer Wohlstandsgesellschaften.«
»So weit richtig! Aber wann bist du hier, abgesehen von den Mitgliedern unserer Filmcrew, zum letzten Mal Menschen begegnet?«
Jetzt versteht Jörg, worauf ich hinauswill. Hier leben keine Menschen. Und wo niemand ist, kann auch niemand gefressen werden.
»Du hast natürlich recht«, gibt Jörg zu, »aber das könnte sich theoretisch schon morgen ändern. Unser kleinster Indianer mag um die 50 Kilos wiegen und eignet sich damit durchaus als größere Beute. Anakondas fressen ja auch ausgewachsene Wasserschweine, die ähnlich schwer werden können.«
»Das erinnert mich an die Wasserschweine, die wir gefilmt haben. Die hatten überhaupt keine Angst, das war wie im Paradies!«, schwärme ich. »Jede Wette, die haben noch nie einen Menschen gesehen, und Motorboote erst recht nicht.«
Erst wenige Tage zuvor hatten wir eine erstaunliche Begegnung mit einer kleinen Gruppe von zehn Wasserschweinen. Wir waren mit unseren Motorkanus den Fluss entlanggeknattert, bis plötzlich vom Ausguck im Bug das Handzeichen für ein gesichtetes Tier kam. Sofort wurde der Motor gedrosselt, tuckerte aber immer noch gut vernehmbar vor sich hin. Die griffbereiten Kameras wurden in Position gebracht. Am Ufer saßen die Wasserschweine verstreut zwischen den Gräsern und schauten uns an, als kämen wir vom Mond. Das verwunderte uns, denn für gewöhnlich fliehen sie mit Karacho ins nächste Gebüsch oder tauchen im Wasser unter. Nach einigen Augenblicken standen die Wasserschweine dann aber langsam auf, verließen nacheinander, neugierig hinter sich schauend, das Ufer und verschwanden im Wald. Erst nach einer Minute waren sie alle weg – und wir hatten eine wunderbare Filmsequenz im Kasten und schöne Fotos geschossen …
»Ob sie uns für harmlose Vegetarier halten?«, sinniere ich vor mich hin. »Einer unserer indianischen Führer hat mir erzählt, dass sie keine Wasserschweine jagen. Dass sich die Einwohner hier den Luxus erlauben, auf diese Beute zu verzichten, überrascht mich jedoch. Ich hätte vermutet, die sind froh um alles, was sie jagen oder fischen können.«
Im Dschungel leben die Tiere viel versteckter und mehr für sich als in den Savannen Afrikas, wo riesige, weithin sichtbare Herden durchs Land ziehen. Viele Europäer, die schon einmal eine geführte Dschungeltour gemacht haben, sind enttäuscht, dass sie dort meist kein größeres Tier zu Gesicht bekommen. Deswegen scheint es in unseren Augen auch viel schwerer zu sein, im Dschungel Beute zu machen.
Doch Jörg weiß es mal wieder besser: »Weit gefehlt! Hier hat jeder Stamm ein paar Tiere, die nicht gejagt und gegessen werden. Unsere Guyaner mögen keine Affen, Ameisenbären und Wasserschweine. Angeblich schmecken ihnen Wasserschweine einfach nicht. Wusstest du, dass in Südamerika oft Meerschweinchen auf dem Speiseplan der ursprünglichen Bevölkerung stehen und große Käferlarven zu einer Art fettigem, glibberigem Pudding zerstampft werden?«
»Na klar, das ist doch ein alter Hut«, antworte ich.
»Übrigens wurde mir erzählt, dass die Felle der Wasserschweine nicht viel taugen.«
Ich stelle mir einen Indianer in Wasserschweinbekleidung vor und muss unwillkürlich grinsen. »Kein Wunder, es ist ja auch warm genug in den Tropen, und bei den Damen der Indianerstämme sind Pelzmäntel einfach nicht in Mode gekommen.«
»Besser so! Dann bleibt den Wasserschweinen wenigstens das Los unserer heimischen Biber erspart. Vor ein paar Jahrzehnten gab es in Deutschland kaum noch Biber. Immerhin scheinen die Schutzmaßnahmen die Biber vor der totalen Ausrottung bewahrt zu haben. Jetzt rächen sie sich: An der Oder graben sie Höhlen in wichtige Hochwasserdämme. Da sie geschützt sind, darf ihnen niemand etwas antun, und die Bestände erholen sich zusehends.«
»Das war ja mal ganz anders«, werfe ich ein. »Die Biber wurden nämlich nicht nur wegen ihres Pelzes dezimiert. Da in der Fastenzeit bekanntlich kein Fleisch gegessen werden durfte, Fisch aber erlaubt war, wurde der Biber im Mittelalter vom Klerus kurzerhand zum Fisch erklärt. Als deutliche Beweise für die Eignung des Bibers als Fastenspeise galten die Schwimmhäute
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