Keine E-Mail fuer Dich
die Medienvielfalt, in der wir uns bewegen, die verlangte Schnelligkeit in der Arbeitswelt – all das hinterlässt Spuren. Es entsteht Überforderung.
Es ist die ungewöhnliche Normalität, in der sich viele Menschen in der heutigen Zeit bewegen, ohne dass es andere mitbekommen.
Manche Kritiker werden einwenden, ich hätte es bei meiner Arbeit als Therapeutin mit pathologischen Einzelfällen oder Extremfällen zu tun, doch in meine Praxis kommen keine »Nerds«, sondern ganz normale Menschen. Das pauschale Lob des Internets und der sozialen Netzwerke ist für mich nur theoretischer Kram, der mit der Realität wenig zu tun hat. Durch das Internet sind wir alle kommunikationsgestörter geworden, wie die Fälle in meiner Praxis, aber auch Alltagsbeobachtungen zeigen. Das wirkt sich negativ auf unser Wohlbefinden und auch auf menschliche Beziehungen aus. Das Leiden ist vorprogrammiert und das psychische Störungsbild nicht weit – wenn wir nicht auf uns aufpassen. Wie haben sich unsere Beziehungen verändert? Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
POSTING, TWEETING, MESSAGING
Wir Sklaven der Maschinen
R alf und Inge sind seit vier Monaten ein Paar. Inge möchte Ralf ein schönes Bild schenken, da es gut in seine Wohnung passen würde. Ralfs Wohnung liegt zehn Minuten von Inges Wohnung entfernt, doch Inge kann sich nicht entschließen, bei Ralf vorbeizufahren, denn Inge möchte Ralf nicht stören. Stattdessen wickelt Inge das Paket mit dem Bild aufwendig ein und bringt es zur Post um die Ecke, um es Ralf in seine zehn Minuten entfernte Wohnung zu schicken. Ralf und Inge kommunizieren täglich per E-Mail, aber der Versand des Bildes wird mit keinem Wort erwähnt. Telefonieren tun sie nie, das wäre irgendwie merkwürdig. Zwei Tage später bedankt sich Ralf per E-Mail artig bei Inge, und Inge freut sich, dass sich Ralf artig per E-Mail bedankt hat.
Nun hat Inge ein neues Problem: In ihrem Büro, das nur fünf Minuten von Ralfs Wohnung entfernt ist, liegt ein Film, den Ralf gerne anschauen möchte.
Wie kann es Inge schaffen, Ralf die DVD zukommen zu lassen?
Inges Möglichkeiten:
Inge geht wieder zur Post.
Inge klingelt einfach an Ralfs Wohnungstür.
Inge steckt die DVD in Ralfs Briefkasten.
Inge schreibt Ralf eine E-Mail, um Ralf mitzuteilen, dass Ralf die DVD in Inges Büro abholen kann.
Inge schreibt Ralf eine Nachricht über Skype, um Ralf ein Treffen an einem Ort zum Zwecke der DVD -Übergabe vorzuschlagen.
Inge öffnet ihr Facebook-Profil und schickt Ralf eine Nachricht, um Ralf zu fragen, ob sie bei Ralf vorbeikommen darf.
Inge benutzt ihren Windows Messenger, um Ralf vorzuschlagen, dass Ralf die DVD bei ihr zu Hause abholt.
Inge schreibt Ralf eine SMS , um Ralf über den Sachverhalt zu informieren.
Es stellen sich folgende Fragen:
Warum bringt Inge die DVD nicht persönlich bei Ralf vorbei?
Warum ruft Inge Ralf nicht an?
Warum ruft Ralf Inge nicht an?
Warum schauen die beiden den Film eigentlich nicht zusammen und amüsieren sich?
Dies ist ein schönes Beispiel aus meiner Praxis. Erkennen Sie sich wieder? Wenn Sie Ihre eigene Kommunikation überprüfen, was fällt Ihnen auf? Gibt es ein Medium, das Sie besonders häufig oder am liebsten gar nicht nutzen? Schreiben Sie lieber SMS , anstatt zu telefonieren? Warum haben Sie diese Vorlieben oder Abneigungen?
Durch die Informationsüberflutung haben viele Menschen kein Bedürfnis mehr nach realer Begegnung. Und auch durch die enorme Arbeitsüberlastung sind sie nur noch erschöpft. Trotzdem sehnen sie sich nach Beziehungen und Freundschaften, sind aber nicht fähig, diese zu führen und zu pflegen. Sie spüren, dass etwas fehlt. Es gibt oft nur noch oberflächliche Kommunikation. Der Kontakt mit Mitmenschen kann dadurch zwar gehalten werden, aber Kontakt bzw. Beziehungen intensivieren sich nur durch reale Begegnungen. Viele Menschen haben verlernt, wie man persönlich mit jemandem in Kontakt tritt und diesen Kontakt aufrechterhält. Die soziale Kompetenz bzw. Intelligenz geht verloren. Emotionen anderer können nicht mehr so gut wahrgenommen werden bzw. man kann darauf nicht reagieren.
Das Gehirn ist durch die enorme Informationsflut großer Überforderung ausgesetzt. Da der Kopf unter Dauerfeuer steht, schaltet das Gehirn auf Durchzug.
Das Internet hat Informations- und Kommunikationsfunktion. Es ist interaktiv und nicht passiv wie z. B. das Fernsehen. So weit, so gut. Kontakte zu halten und sich in der realen Welt zu verabreden, sei durch das Internet
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