Keine E-Mail fuer Dich
suggeriert, dass heute alles möglich ist. Du kannst alles tun, du kannst alles werden, du kannst überall leben, du kannst alles haben. Das Problem: Es gibt eine Grenze, und zwar die Zeit! Wir müssen lernen, uns zu entschleunigen, damit wir wieder fühlen können. Dem Einzelnen, der in Therapie geht, ist leider nicht geholfen, wenn sich die Welt um ihn herum weiter so schnell dreht.
Durch die vielen Kommunikationswerkzeuge, die wir immer hektischer bedienen, haben wir eine Grundvoraussetzung von Kommunikation, nämlich das Zuhören und das Verstehen-Wollen, verlernt. Zuhören ist ein hochkomplexer psychologischer Prozess, für den wir Konzentration brauchen. Die wird durch jede Ablenkung verhindert. Man empfängt beim Zuhören verbale und nonverbale Signale, die vom Zuhörer entschlüsselt und auf einen Sinn hin überprüft werden. Dann entscheidet man, wie man darauf reagiert. Wer nicht mehr richtig zuhört, reagiert oft falsch. Wenn der andere, mit dem man kommunizieren möchte, mir nicht gegenübersitzt, kann ich seine Mimik und Gestik nicht beobachten, und dadurch fehlen wichtige Informationen, Missverständnisse sind vorprogrammiert.
Die Voraussetzungen für richtiges Zuhören sind draußen in der Welt immer weniger vorhanden: Zeit und Präsenz. Unsere Zeit wird immer knapper, und aufgrund der technischen Möglichkeiten findet Kommunikation am häufigsten schriftlich und über eine räumliche Distanz hinweg statt. Durch Mangel an Zeit sehen wir Mitmenschen immer seltener, tagsüber arbeiten wir viel, und abends sind wir oft zu müde. Wir schicken dann ein Lebenszeichen per SMS oder E-Mail, um zu suggerieren, dass wir für den anderen noch da sind.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass uns die modernen Kommunikationsmittel erleichtern, Freundschaften und Beziehungen zu knüpfen, aufzubauen und wirklich aufrechtzuerhalten. Man kann auf diese Weise in Kontakt bleiben, ohne sich zu sehen, mehr aber auch nicht. Zu einem wirklichen Gegenüber werden wir so nicht. Hören und Gehört-Werden sind nämlich elementare Formen der Anerkennung, ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen, sie sind Voraussetzung für unsere Identitätskonstruktion. Wir Menschen sind auf echten Dialog angewiesen. Wir brauchen verbale und nonverbale Signale, die vom Zuhörer entschlüsselt und auf einen Sinn überprüft werden. Gutes Zuhören ist ein Akt des Sein-Lassens, das heißt Passivität. Ein schwieriger Zustand für Menschen in unserer Aktivitätsgesellschaft, in der das Nichtstun als verwerflich gilt und Ruhe fast als Störung empfunden wird. Dabei ist das Zuhören eine wunderschöne Sache: Jemand schenkt mir sein Innerstes.
Die Ironie der Geschichte ist, dass die Arbeit von Therapeuten heute eine neue Marktlücke schließt, denn Zuhören ist ihr Beruf. In meinen Beispielen aus dem Praxisalltag zeigt sich ganz deutlich, wie sehr die Menschen auf das Gehört-Werden angewiesen sind. Ein Therapeut ist meist die einzige reale Person, die wirklich noch zuhört. In unsere »schöne neue Welt« ist eine neue, schreckliche Kälte eingezogen.
Was passiert da in unserem Kopf? Vor allem eines: Die affektive Schwingungsfähigkeit eines Menschen, also die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen und auszudrücken und auf Ereignisse angemessen zu reagieren, nimmt mehr und mehr ab. Ständig ist man im Wettbewerb mit seinen Arbeitskollegen. Man muss schneller und besser als die anderen sein, denn die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist enorm. Man muss möglichst immer vernetzt und aufmerksam sein und eine tägliche Informationsflut bewältigen: Telefonanrufe, SMS, E-Mails, Internet, Zeitungen, Fernsehsender. Vor lauter Reaktionszwang kommen wir gar nicht mehr hinterher und vernachlässigen unser soziales Umfeld: Eltern, Partner, Freunde. Die Medienwelt beherrscht uns, Stille ist in unserer modernen Gesellschaft fast nicht mehr vorhanden, wir werden permanent akustisch belagert. Mit Psychopharmaka, Alkohol, Drogen und im günstigeren Falle mit Therapie versuchen die Menschen, mit den Anforderungen dieser Welt klarzukommen.
Als Therapeutin stelle ich fest, dass sich die Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen in unserer Web-Generation stark verändert haben. Die Kombination von Computerarbeit, Informationsüberflutung und permanenter beruflicher und privater Konkurrenz mit anderen Menschen ist stressig und macht krank. Ein Zuviel an Informationen kann vom Gehirn nicht mehr verarbeitet werden: Immer online zu sein und E-Mails zu beantworten ohne Ende,
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