Keine E-Mail fuer Dich
einfacher geworden, ist das gängige Argument. Ist es aber nicht noch einfacher, jemanden einfach anzurufen? Warum drücken sich mittlerweile viele davor, so mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu treten?
Durch die Neuen Medien, sozialen Netzwerke und die vielen verschiedenen Kommunikationsmittel entstehen Kommunikationsstörungen und dadurch wiederum Beziehungsstörungen. Durch exzessiven Internetgebrauch entstehen oder verstärken sich psychische Krankheiten. Ich ziehe in den Kampf und verweigere mich: E-Mails werden bei mir nur einmal am Tag abgerufen, und am Wochenende bleibt der Computer ganz aus.
Früher gab es nur das gute alte Festnetztelefon ohne Rufnummernanzeige. Als Zehnjährige rief ich bei meiner Freundin an. Ihre Mutter nahm den Hörer ab und teilte mir mit, dass meine Freundin auf dem Spielplatz tobe und ich entweder mittoben gehen oder in zwei Stunden noch mal anrufen könne. Ich höre oft von Patienten, dass es sie große Überwindung kostet, jemanden anzurufen. Sie bevorzugen die anonyme, passive, schriftliche Kommunikation per SMS oder E-Mail. Ein Festnetztelefon zu nutzen, ist für sie oft schon eine Herausforderung. Man kann schon fast von einer Telefonphobie sprechen. Das Auseinanderleben muss zwangsläufig entstehen, wenn die Anpassung an technische Zwänge wichtiger wird als Gefühle und Beziehungen. Der solcherart an die Maschine angepasste Mensch ist ernsthaft behindert, aktiv am Leben teilzunehmen – zu leben und zu lieben.
Ergebnis von Kommunikation sollte Aufmerksamkeit sein. Meist konzentriert sich die Aufmerksamkeit aber nur noch auf das Kommunizieren an sich. Wir Menschen sind sozial miteinander verbunden. Wer durch exzessiven Medienkonsum dazu nicht mehr in der Lage ist, hat das Übersetzen vom Online- ins Offline-Leben verfehlt. Es entsteht eine Realitätsblindheit, man verliert den Anschluss an das echte Leben, menschliche Beziehungen werden vernachlässigt oder können gar nicht mehr entstehen. Durch Überladung von virtueller Kommunikation verarmt der Mensch in realer Kommunikation im echten Leben. Wir werden von Technik fremdbestimmt, wir sind Sklaven von Maschinen geworden und mittlerweile unfähig, über uns selbst zu bestimmen. Durch Vernetzung und ständige Erreichbarkeit verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer stärker. Wir bemühen uns ständig um Anpassung, um für die Ansprüche anderer gerüstet zu sein.
Stress zu haben, ist inzwischen fast ein Statussymbol, denn Dauerereichbarkeit und Mobilität sind Symbole von Erfolg geworden. Arbeit wird zur Bildung von Identität benutzt, Leistung zählt und soll das eigene Selbstwertgefühl steigern, darum muss Freizeitgestaltung weichen, Freunde und Familie stehen hintenan. Menschen und Lebensbereiche konkurrieren gegeneinander. Dadurch haben psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen in Deutschland seit 1997 über 70 Prozent zugenommen.
Im vordigitalen Zeitalter gab es Grenzen von Zeit und Raum. Der heutige mobile Mensch ist von Zeit und Ort entwurzelt und Arbeit von Privatleben durch beschleunigte digitale Technologien »entgrenzt«. Es entsteht ein neues Zeit- und Raum-Bewusstsein, denn unser Verhältnis zu Ort und Zeit hat sich bereits durch ständige Verfügbarkeit jederzeit und überall verändert. Wir leben in verschiedenen Zeitzonen. Es gibt Menschen in meiner Praxis, die leben in der Vergangenheit und klagen über vergangene Zeiten, die meisten leben in der Zukunft. Gedanken und Verhalten werden danach ausgerichtet, damit ist man permanent beschäftigt. Die wenigsten Menschen leben in der Gegenwart, denn sie sind mit der Zukunft beschäftigt. Einfach mal anhalten, stehen bleiben, genießen und sich an Schönes erinnern – so wäre das Leben doch am gelungensten. Wir brauchen Bezug zu Orten und zur Zeit, damit wir uns orientieren können und psychisch stabil bleiben. Unsere eigene Historie bzw. Biografie benötigen wir zur Identitätsbildung.
Arbeit und auch Privatleben werden immer virtueller. Effizienz und Effektivität sind heute ausschlaggebend. Es gibt keine Auszeiten mehr, nie einen Moment der Stille. Es sei denn, wir üben den Totstellreflex und stellen uns selbst auf »off«. Wer »off« ist, fällt raus aus der digitalen Welt. Wahrscheinlich wird er nichts verpassen.
Der Mensch muss flexibel sein, laut Sozialdarwinismus geht es um das »Survival of the Fittest«. Das heißt, dass derjenige, der sich am besten an die Umwelt anpassen kann, überlebt. Doch was ist
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