Keine Frage des Geschmacks
der letzte Schrei zu sein.«
»Das schon«, antwortete der Inspektor zögerlich. »Sie war es übrigens, die am Molo Audace einem riesigen dicken Mann an Bord der ›Greta Garbo‹ geholfen hat, als Sie mit Ihrer Tochter vor Harrys Grill beim Aperitif saßen.«
»Was? Der Deutsche etwa?« Laurenti fuhr hoch. »Bist du dir sicher?«
»Dass es Vittoria war, kann ich beschwören. Den Dicken hab ich mir nicht angesehen …«
Laurenti unterbrach ihn. »Mensch, Battinelli, wenn der Deutsche wirklich an Bord war, dann hat er Spuren hinterlassen. Wir hätten das Schiff längst beschlagnahmen können, verdammt.«
»Erst als ich Vittoria gestern am Anleger gesehen habe, ist es mir wieder eingefallen.«
»Mach eine Halse und kehr um. Wie lange brauchst du zurück?«
»Fünf Stunden mindestens, trotz des guten Winds. Laut Seewetterdienst ziehen gegen Abend Gewitter auf. Was haben Sie vor?«
»Kauf dir das nächste Mal gefälligst ein Motorboot.« Laurenti warf einen Blick auf die Karte. »Ich werde die Staatsanwältin umgehend davon überzeugen, dass die Kollegen in Chioggia, Ravenna oder Rimini die Yacht aus dem Verkehr ziehen und die Spurensicherung an Bord schicken müssen. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass die Sache nicht in Triest passiert. Weniger Aufsehen, weniger Protest, weniger Drohgebärden. Und bis er zurück ist, dauert es seine Zeit. Dich aber brauche ich jetzt dringend hier, Gilo, denn Lele wird mit Sicherheit zurückkommen und von hier aus alle Hebel in Bewegung setzen. Heiter wird das nicht.«
Er legte auf, fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Na warte«, sagte er leise, während er von dem Blatt, das am Regal hinter ihm hing, die Nummer der Staatsanwältin ablas.
»Dottoressa Volpini, Laurenti hier. Zwei Dinge auf einmal heute. Und beide eilig. Die erste betrifft Lele und Birkenstock …«
»Vermeiden Sie, die Leute beim Spitznamen zu nennen, Laurenti. Der erste heißt Raffaele Raccaro und der zweite Harald Bierchen. Die Formalitäten sind die Basis, und damit Schluss. Also, was gibt’s?«
Er fasste den Bericht des Inspektors so zusammen, dass die Schlussfolgerung auf der Hand lag.
»Ich werde die Anweisung sofort diktieren. Handeln Sie, Laurenti«, forderte Iva Volpini ihn schon freundlicher auf. »Gestern Nachmittag trudelte die Klage einer Londoner Kanzlei gegen Raccaro ein. Erpressung, Bedrohung, Verunglimpfung, Diffamierung, Stalking! Sowie eine Schadenersatzforderung über zweieinhalb Millionen britische Pfund. Diese Anwälte schießen mit der Bazooka.«
»Mein zweiter Punkt ist, dass wir seit sechs Uhr heute Morgen einen neuen Fall haben, Dottoressa.«
Die Welt war ein unendliches Spiel aus Über- und Unterschätzungen, das Leben ein immerwährendes Missverständnis.Und meist kam die Erkenntnis zu spät, als dass sie den Lauf der Dinge hätte ändern können.
»Halten Sie mich bei der kleinsten Erkenntnis auf dem Laufenden, Commissario!«, befahl die Staatsanwältin am Ende seiner Ausführungen über die Geschehnisse im Park von Miramare. Sie wusste selbst, dass noch keine Ergebnisse vorliegen konnten und es außer dem Verhör der drei selbsternannten Bürgerschützer zu früh für weitere Maßnahmen war. Die Opfer lagen beide im Operationssaal. Selbst wenn sie überlebten, wären sie vorerst kaum vernehmbar.
Gut, dass Iva Volpini neu in der Stadt war. Wäre sie mit den Verstrickungen vertraut, dann hätte sie sich vermutlich mehr Zeit für eine Entscheidung genommen. Diese Sache würde viel Staub aufwirbeln, Lele gäbe sicher nicht klein bei. Eine Schadenersatzklage über drei Millionen Euro. Das musste selbst für den Schattenmann starker Tobak sein. Dass Raccaro seine Finger in allen großen Transaktionen hatte, war bekannt. Aber gefälschte Pornos, mit denen vergeblich versucht wurde, eine britische Abgeordnete zu erpressen? Wo doch die richtigen viel besser dazu geeignet waren.
Er kramte in den Papierstößen auf seinem Schreibtisch nach dem Aktendeckel mit den delikaten Fotos der Engländerin, die der Kriminaltechniker ihm persönlich übergeben hatte. Laurenti hatte ihn unter die anderen Akten geschoben, das Material war zu heikel, als dass es obenauf liegen durfte. Doch plötzlich erschrak er. Wie kamen die Bilder von der Fotofalle im Wald in diese Mappe? Er und Gemma am Stamm der alten Eiche! War das ein schlechter Scherz des Kollegen, oder hatte er sie in Gedanken selbst dort hineingelegt? Marietta hatte behauptet, dass der Kriminaltechniker die Datei in ihrem
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