Keine Frage des Geschmacks
Dokumente hervor. Der Commissario blieb nicht lange mit ihnen allein, zwei weitere Streifenwagen näherten sich.
»Sperrt das Gelände im großen Umkreis ab und nehmt dem Bullenkopf die Jacke ab. Er hat Blut am Ärmel. Untersucht auch die anderen«, befahl er den Uniformierten, »und dann bringt ihr die Männer in die Questura. Einzeln. Kein Kontakt zwischen ihnen.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war zwanzig vor sieben, als der erste Krankenwagen vor der Skulptur des Amedeo Duca d’Aosta wendete und sich auf den Weg zur Universitätsklinik machte. Auch Alberto wurde noch am Tatort versorgt und abtransportiert. Sein Kaftan war blutverschmiert, die Wollmütze lag einen Meter entfernt. Zum ersten Mal, seit er den fliegenden Händler kannte, sah Laurenti seinen kahlen Kopf.
*
Der Kaffee, den sie in der Mokka aufgesetzt hatte, war ungenießbar. Miriam begnügte sich mit einem Glas Wasser und rief ein Taxi. Das Haus verließ sie erst, als der Wagen in der noch zarten Morgensonne vor der Tür stand. Immer wieder schaute sie sich während der Fahrt zum Hauptbahnhof um. Um 5.02 Uhr bestieg sie den Regionalzug, den Schichtarbeiter der großen Werft in Monfalcone nutzten, und stieg als einzige gleich in Sistiana-Visogliano wieder aus. Sie wechselte den Bahnsteig und musste eine halbe Stunde warten, bis der nächste Zug zurück nach Triest einfuhr. Jetzt war sie allein in dem Waggon. Kurz vor sechs stieg sie am kleinen, schmuck renovierten ehemaligen kaiserlichen Bahnhof beimSchloss Miramare aus. Wieder schaute sie sich um, munteres Vogelgezwitscher war das einzige vernehmbare Geräusch, nachdem der Zug in der Ferne verschwunden war. Sie ging durch die Unterführung und stand nach wenigen Metern vor dem verschlossenen nördlichen Tor des Schlossparks. So wie Alberto es beschrieben hatte, ging sie etwa hundert Schritte rechts am Zaun vorbei bis zu einer Stelle, wo man sie von der Straße aus nicht sehen konnte. Rasch fand sie den losen Gitterstab und stieg durch die schmale Öffnung in den Park, den sein Begründer mit exotischen Pflanzen hatte bestücken lassen. Obwohl sie sich sicher fühlte, vermied sie die Kieswege, auf denen man ihre Schritte hören konnte. Weit unten am Meer ragte der Turm des weißen Schlosses über die Wipfel der alten Bäume, auf dem die Trikolore sanft im Wind wehte. Sie kam an einem sumpfigen Weiher vorbei, auf dem Enten und Schwäne paddelten, und an einem Glashaus, in dem Kolibris und exotische Schmetterlinge gezüchtet wurden. Sie hielt sich rechts davon und stieß, wie beschrieben, endlich auf die Skulptur des Amedeo d’Aosta.
Der Held des faschistischen Italiens, Vizekönig Äthiopiens und Gouverneur von Italienisch-Ostafrika, der für den Duce den Feldzug in Abessinien geführt hatte und heute als Ehrenmann verklärt wurde, stand im Harnisch auf einem Steinsockel. Eine Inschrift verkündete, dass er 1971 post mortem zum Ehrenbürger Triests ernannt worden war. Überall unterschlugen Denkmäler der Volksheroen die grausame Wahrheit. Erst 1941, mit der bedingungslosen Kapitulation gegenüber den Engländern, wurde den Greueltaten der Besatzer in Äthiopien ein Ende gesetzt. Nur wenige Italiener blieben im Land, einer war ihr Großvater Paolo Natisone. Und aus dem geplünderten Hauptquartier des Savoyers in Addis Abeba hatte er nach dem Abzug seiner Landsleute schließlich den Tisch nach Jimma gebracht, der heute im Appartement in der Colville Mews in London stand.
Miriam hörte Schritte und löste ihren Blick von dem Monument, es musste Alberto sein. Doch plötzlich schlang sich von hinten ein Arm um ihren Hals, und sie spürte einen Körper an ihrem Rücken. Verzweifelt schlug sie um sich, doch der Mann war stark. Sie hatte keine Chance, sich aus dem Griff zu winden, aber ihr Fußtritt traf das Knie des Angreifers und ihre Nägel bohrten sich in seinen Unterarm. Sie stieß einen grellen, langen Schrei aus und trat noch einmal zu, doch dann spürte sie einen heftigen Druck auf dem Kehlkopf, der ihr die Stimme nahm, und plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel eine kurze Klinge aufblitzen, die sich von links unten ihrem Hals näherte. Sie biss so fest sie konnte in den Unterarm, der sich über ihr Gesicht gelegt hatte, ein dumpfer Schrei löste sich aus dem Mund des Angreifers. Sie brachte all ihre Kräfte auf und strampelte, riss an seinen Haaren, schlug um sich. Doch dann spürte sie den Schnitt und das Blut, schlagartig stellte sie sich leblos, sank in sich zusammen. Der Griff
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