Keine Frage des Geschmacks
inzwischen zu einer blassen Erinnerung verkommen war. Und der heroische Ermittler von einst war inzwischen Politiker mit ehrenhaften Absichten und großen rhetorischen Schwächen.
Aurelio breitete die Akten in genau der Reihenfolge, wie er sie dem voluminösen Panzerschrank entnommen hatte, auf dem Boden aus. Von jedem Fach schoss er zuvor eine Aufnahme, um die Dokumente exakt zurücklegen zu können. Er fügte eine Menge Notizen in die vorbereitete Liste ein, manche Dokumente lichtete er ab. Gewissenhaft bearbeitete er ein Fach nach dem anderen. Einmal schrak er auf, als er ein leises Summen hörte, als hätte es nebenan mehrfach geklingelt.An seiner Wohnungstür. Auf Zehenspitzen schlich er zur Eingangstür, warf einen Blick durch den Spion und sah gerade noch, wie sich die Aufzugtür hinter einem Mann im grauen Anzug schloss. Dann machte er sich wieder an sein Werk. Das unterste Fach enthielt Persönliches. Der erste Führerschein und alte entwertete Reisepässe, Taufschein und eine Scheidungsurkunde vom Oktober 1982 samt Verzichtserklärung auf Unterhalt. Sieben Monate vor Aurelios Geburt. Er schauderte und konnte den Blick nicht von dem Blatt lösen. Olga Zelawskowa hieß die Frau, die damals so alt war wie Aurelio heute, geboren war sie in Kiew. War das seine Mutter? Er hatte sich damit abgefunden, nie etwas über sie zu erfahren, und stets behauptet, sie interessiere ihn nicht. Wo war die Frau heute? Wenn Lele die Wahrheit sagte, dann hatte sie Aurelio als Neugeborenes bei ihm zurückgelassen. Warum musste er ausgerechnet jetzt auf sie stoßen? Er hatte feuchte Hände, und sein Atem beschleunigte sich. Aurelio fotografierte das Dokument und legte es zurück. Er zwang sich zur Ruhe und blätterte weiter. Zuunterst lag ein weißer Aktendeckel mit der Aufschrift »Testament«. Er platzte vor Neugier, doch fand er lediglich die Honorarnote eines Notars und einen handgeschriebenen Zettel:
An meine Söhne Aurelio und Giulio. Alles was ihr wissen müsst, erfahrt ihr von dem von mir beauftragten Notar, bei dem mein Testament und andere Dokumente hinterlegt sind, über die er euch im Fall meines Ablebens gemäß meinen Anweisungen unterrichten wird. Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, will ich aber eines hier sogleich klarstellen. Ich bin der leibliche Vater von Giulio Gazza und von Aurelio Selva. Nur in Einigkeit werdet ihr mein Werk fortsetzen können. Die Zeit eurer Streitereien hat mit meinem Tod ein Ende, da ich verfügt habe, dass mein Nachlass sonst von einem bereits eingesetzten Treuhänder abgewickelt wird. In diesem Fall kommt der Erlös daraus einer Institution zugute, mit der mein persönlicher Erfolg eng verknüpft ist. Mit dem Pflichtteil könnt ihr dann machen, was ihr wollt. Aus begreiflichen Gründen wird er lächerlich niedrig sein. Die Notariatskosten sind beglichen. Lele.
Der alte Fuchs hatte an alles gedacht. Die Vorstellung, dass Giulio wirklich sein Bruder war, grauste Aurelio genauso wie der Gedanke, etwas mit ihm teilen zu müssen. Der Fettsack war also ein Kuckucksei. Ob Gazza das wusste? Seit gestern Nachmittag schmorte er in Udine im Knast. Aurelio grinste. Nach dem Anruf der Qualle hatte er nicht das Geringste unternommen, obgleich er ihm am Telefon hoch und heilig und mit gestelltem Entsetzen versprochen hatte, sogleich Leles Anwaltskanzlei zu informieren. Die Sache mit den Fotos hing jetzt allein an Gazza.
Einen kurzen Moment lang erwog er, das Testament an sich zu nehmen, doch dann legte er auch diese Unterlagen so in den Safe zurück, wie er sie vorgefunden hatte.
Um fünfzehn Uhr setzte sich Aurelio auf das blaue Sofa und gähnte. Er hatte einiges zu verdauen, doch seinem Ziel war er einen großen Schritt näher gekommen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
*
»Ich mache mir schwere Vorwürfe. Ich habe die Sache nicht ernst genug genommen«, sagte Pina und biss sich auf die Unterlippe. Das Selbstbewusstsein der Inspektorin, die sonst vor Ehrgeiz platzte, musste einen heftigen Knacks erlitten haben. Im Kollegenkreis hieß es, dass Pina, um sich nach solchen Niederlagen wieder aufzurichten, ein hartes Kampfsporttraining durchzog, bei dem niemand, der sie kannte, ihr Sparringspartner sein wollte.
Kaum war sie vom Einsatz in die Questura gekommen, wurde sie bei Laurenti vorstellig, der auf der Suche nach KaffeeMariettas Büro auf den Kopf gestellt hatte. Gestern war die Aluminiumdose noch voll gewesen und hatte am üblichen
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