Keine Frage des Geschmacks
Organisation zählte Alberto zu den kleinen Lichtern. Er kooperierte mit den Sicherheitskräften aus strategischen Gründen.
Vor knapp vier Monaten hatte der Schwarze es doch noch geschafft, Laurenti etwas anzudrehen. Es war der Tag, an dem Proteo in der Bar eine Runde Spumante spendierte und stolz verkündete, dass er soeben Großvater des schönsten Neugeborenen geworden war, das die Welt jemals gesehen habe. Mit pechschwarzem Haar, wie ihre Mutter, das sie wiederum von ihm geerbt hatte. Alberto wusste die Chance zu nutzen: Ein echter Talisman gegen alle Dämonen dieser Welt, handgeschnitzt in seinem Heimatdorf, wie er versicherte. Alberto, das hätte Laurenti geschworen, war alles, aber kein Vergewaltiger. Und ganz sicher hätte er niemals selbst Hand angelegt, wenn es darum ging abzurechnen.
Doch was tat er zu so früher Stunde ausgerechnet an diesem Ort? Für eine Statistenrolle am Set der Filmcrew war Alberto nicht vorgesehen. Wem also wollte er seine Armreifen, blinkenden Feuerzeuge, Glücksbringer und Talismane andrehen? Wer außer den armen Schwänen im vermoosten Teich oder den seltenen Kolibris im berühmten Hegehaus war um diese Zeit schon hier?
Es hieß, dass Miramare allen Unglück bescherte, die dort nächtigten. Der Legende nach ging der Fluch von der kleinen Sphinx am Hafen aus, die Maximilian I. einst aus Ägypten entführt hatte. Jeder Bewohner des Schlosses war fern seiner Heimat eines unnatürlichen Todes gestorben: Erzherzog Maximilian I. von Österreich wurde von den Franzosen während der Interventionskriege zum Kaiser von Mexiko gemacht, verraten, dann schnöde von allen Verwandten und Verbündeten im Stich gelassen und 1867 von den Truppen des Präsidenten Benito Juarez standrechtlich erschossen. Amedeo d’Aosta starb 1941 in britischer Kriegsgefangenschaft in Kenia an Malaria und Tuberkulose; während der Nazibesatzung residierte in dem weißen Schloss SS-Obergruppenführer Friedrich Rainer als Reichverteidigungskommissar der »Operationszone Adriatisches Küstenland«. Ein Militärgerichtin Ljubljana verurteilte ihn 1947 zum Tode. Die amerikanischen Generäle Moore und MacFadden, die während der UN-Verwaltung Triests bis 1954 hier ihr Hauptquartier bezogen hatten, kamen beide bei einem Autounfall ums Leben. Der Spuk hatte ein Ende, als Miramare 1955 in ein staatliches Museum umgewandelt wurde. War die Sphinx an diesem Morgen aus ihrem steinernen Schlaf erwacht? Das Signal seines Mobiltelefons riss Laurenti aus den Gedanken.
Wie jeden Morgen hatte Gemma eine SMS geschickt. Ihre weiche, fröhliche Stimme vernahm er gleich nach dem zweiten Klingeln.
»Ich hoffe, in Triest herrscht heute Leichenstarre«, sagte sie. »Ein freies Wochenende für uns beide. Ist Laura schon auf See?«
»Gegen Mittag, Kleine. Sehen wir uns nachher auf einen Kaffee?«
»Dann findest du mich auf der Diga vecchia. Ich warte bereits auf das Boot zum Übersetzen. Und vor Sonnenuntergang kriegt mich dort niemand weg.«
»Dafür sitze ich im Büro und habe keine Ahnung, wann ich rauskomme. Meine Kundschaft litt letzte Nacht leider an Schlafstörungen. Außerdem ist es auf der Diga am Wochenende gefährlich. Zu viele Leute«, murmelte Laurenti.
»Eine deiner Badehosen ist in meiner Tasche, Proteo, und ein Handtuch auch.«
»Dann ruf an, wenn du draußen bist, und sag mir, ob die Luft rein ist.«
Kaum hatte er aufgelegt, rief Gilo Battinelli an und berichtete von Raccaros Treffen in Lignano Pineta. »Lele ist heute früh mit einem Aktenkoffer an Bord gekommen, den er gestern nicht dabeihatte, und dann ist er gleich ausgelaufen, Chef, strikt Richtung Süden. Die italienische Küste entlang, sofern er den Kurs beibehält. Ich sehe den Wasserturm vonJesolo am Horizont, wir sind jetzt fast auf der Höhe von Venedig. Mit an Bord ist übrigens Vittoria, die brasilianische Transsexuelle. Der alte Herr mag Gespielinnen mit breiterem Erfahrungsspektrum.«
Laurenti hatte den Hörer zwischen Schulter und linkes Ohr geklemmt und überflog das Schreiben, das er gestern Nachmittag vom Stau auf der Autobahn aus diktiert hatte. Wenn alles nach Vorschrift lief, dann sollte Gazza heute noch überstellt werden. Auf Anhieb sprangen ihm drei Tippfehler ins Auge. Früher war Marietta nie eine solche Schludrigkeit unterlaufen. So unkonzentriert kannte er sie nicht. Laurenti unterstrich die Stellen rot, nachher würde er das Schreiben auf ihren Schreibtisch zurücklegen.
»Jeder nach seinem Geschmack, Gilo. Scheint inzwischen
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