Keine Frage des Geschmacks
Wirtschaft, der Baubranche – und der Kurie. Never change a winning team! Nur die Russen waren erst seit kurzem im Spiel. Allmählich hatte sich daraus für Aurelio ein konkretes Bild von Leles Geschäften ergeben und der Abhängigkeiten, dank deren er überall mitverdiente.
Die Lücken markierte Aurelio mit einem roten Fragezeichen, dann druckte er das Dokument aus. Er ging zu Leles Wohnung hinüber und drehte zuerst den kleineren Schlüssel zweimal in dem Schloss neben der Türklingel, um die Alarmanlage auszuschalten. Im Salon setzte er sich mitten auf das riesige blaue Sofa und forschte in seinen Unterlagen, nach welchen Dokumenten er im Safe suchen musste. Wut kochte in ihm hoch, Lele ließ ihn die dreckigen Geschäfte erledigen, und diese Kaste der Unantastbaren scheffelte ein Schweinegeld mit ihren krummen Touren und machte keinen Hehl aus ihrem Einfluss und Reichtum. Doch jetzt würde auch er davon profitieren. Aurelio hatte lange genug gewartet. Er wollte endgültig weg von hier, ein besseres Leben würde er überall finden.
Sein Blick fiel auf die Wand mit dem kleinen Bild von Courbet. So erotisch wie Raccaro behauptete, fand er die Mündung des Timavo nicht. Doch wenn das Werk wirklich aus der Hand des Künstlers stammte, musste es einen immensen Wert haben. Aurelio zog die nackten Tatsachen vor,und Jeanette war einmalig gewesen. Lele hingegen liebte zweigeschlechtige Wesen wie Vittoria. Geschmacksache, Aurelio besaß Fotos, die sich in Cash umwandeln ließen. Der Alte würde staunen über das, was er zu Gesicht bekäme. Und dann nahm er das Ahnenfoto von der Wand, das angeblich seinen Großvater zeigte. Scheinbar hatte Aurelio eine Familie, von der er niemanden kannte, außer den Zwerg, der ständig behauptete, sein Vater zu sein. Er steckte es in seinen Aktenkoffer.
Aurelio gähnte. Er spürte die Müdigkeit, doch er hatte noch einiges zu tun. Am Nachmittag musste er die Kaffeebestellungen bearbeiten, zuvor aber wollte er hier sein Werk beenden. Nochmals gähnte er ausgiebig, bevor er sich erneut in die Aufzeichnungen vertiefte: drei Einkaufszentren, mit deren Errichtung Raccaro große Summen gewaschen hatte und deren Mieteinnahmen nicht die erhoffte Rendite abwarfen und Kummer bereiteten. Zahlreiche Flächen standen leer. Anders verhielt es sich mit der anstehenden Vergrößerung des Golfplatzes auf dem Hochplateau samt einem geplanten Luxusressort. Das Ackerland auf dem Karst, das Lele rechtzeitig vor der Verabschiedung des neuen Flächennutzungsplanes billig erworben hatte, vervielfachte dank einem einzigen Akt der Stadtregierung schlagartig seinen Wert: Wie durch ein Wunder war es zu Bauland geworden. Langfristig gedacht war hingegen Leles Aktienpaket eines spanischen Energieversorgers, dessen Manager nicht ohne Grund auf die Unerfahrenheit und die Ignoranz der Lokalpolitiker hofften, um eine gigantische LNG-Aufbereitungsanlage für flüssiges Erdgas im Golf zu errichten. Ein unsinniger Standort, denn dieses Projekt würde den Hafen endgültig zum Erliegen bringen, die Wasserqualität und die Fischerei ruinieren und Triest und sein Umland zum peripheren Energielieferanten für das Vaterland herunterwirtschaften, dessen Regierung weit weg saß. Lele konnte keine andere Absicht verfolgen. Weshalbsonst machte er sich auch noch für ein Atomkraftwerk bei Monfalcone stark? Eine Lobby, die sich dagegen auflehnte, gab es nicht in der Stadt. Aurelio waren all die Konsequenzen gleichgültig. Wäre er erst einmal in Australien oder Neuseeland, könnte von ihm aus die ganze Gegend hier im Meer versinken.
Raffaele Raccaro wechselte den Code zu seinem Safe gewöhnlich jeden Sonntag, und Aurelio hatte über die Jahre beobachtet, dass er stets die gleichen fünf Nummernkombinationen verwendete. Sein eigenes Geburtsdatum, dann das des Fettsacks und das Aurelios. Dazu der 26. Oktober 1954, als Triest, nach der Auflösung des Freistaats, zum zweiten Mal in seiner Geschichte italienisch wurde und damit auch Leles Erfolg als Geschäftsmann begann. Sowie der 6. Dezember 1994, als der Untersuchungsrichter Antonio Di Pietro, die Symbolfigur der »Mani pulite«, seinen Rücktritt erklärte. Das war das Ende der Untersuchungskommission, die in den Jahren zuvor das kriminelle Gefüge aus Korruption und Gefälligkeiten ans Licht gebracht hatte, das Wirtschaft, Politik und Organisiertes Verbrechen zu nutzen verstanden hatten. Ein Ruck war durch die Gesellschaft gegangen, und die Bürger fassten wieder Zuversicht, die
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