Keine Frage des Geschmacks
lockerte sich, sie hörte eine andere Stimme. Miriam führte ihre Hand an den Hals und drückte auf die Wunde, sie hörte schnelle Schritte auf dem Kiesweg, als ob jemand davonrannte. Und dann die Stimme Albertos, der sich über sie beugte. Sie hustete und spuckte, und endlich sah sie ihn wie durch einen Nebelschleier.
»Miriam, sag etwas. Kannst du mich hören?« Mit zwei Fingern nahm er das Messer, das auf ihrer Brust lag, und warf es ins Gras. Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Dann versuchte er, ihren Griff von der Wunde zu lösen. Doch plötzlich vernahm sie wütendes Gebrüll, Alberto wurde abrupt aus ihrem Gesichtsfeld gerissen. Er schrie auf, Männerstimmen beschimpften ihn als dreckigen Neger. Er stöhnte laut, Miriam schwanden die Sinne.
*
Der Fall mit den beiden Schwerverletzten stank zum Himmel. Auf Druck der Lega Nord hatte die Regierung ein Dekret zur Förderung der »Ronde«, der freiwilligen Bürgerwehr, erlassen. Der fremdenfeindlichen Partei war es bei den letzten Wahlen gelungen, auch Stimmen von Protestwählern abzusahnen, die ihre Saubermännerslogans nicht teilten. Nun spielte die Lega Nord in der Regierung ihre Macht als Zünglein an der Waage aus. Unausgebildete Männer meldeten sich und hielten sich für wichtig, wenn sie nachts durch die Stadtviertel patrouillierten. In ihrer Selbstüberschätzung behaupteten sie, beste Beziehungen zu Polizei und Carabinieri zu pflegen. Von einer Ausländerplage, die gestoppt werden musste, faselten sie und davon, dass man in den Camps der Roma dringend an die Rattenvernichtung gehen sollte. In Triest hatte diese merkwürdige Truppe kaum Zulauf, doch in manchen Landstrichen im Norden des Landes gebärdeten sie sich mit martialischen Gesten. Auf YouTube kursierten Videos von ihren rassistischen Veranstaltungen mit Fackelträgern und Ku-Klux-Klan-Maskierung. Die Finanzierung dieser »Volontieri della sicurezza« wollte das Innenministerium zu Lasten des Etats der regulären Ordnungskräfte bestreiten, denen manchmal sogar die Mittel zur Pflege des Fuhrparks fehlten, wenn nicht sogar zum Quartalsende der Treibstoff. Von der Büroausstattung ganz zu schweigen. Auch das war Teil des Lügengebäudes der Regierung: Die Zustände bewusst verschlechtern, damit man nachher um so massiver gegen sie vorgehen musste und dabei eine Attacke nach der anderen auf die Rechtsstaatlichkeit reiten konnte. Dumpfpopulistischer Zynismus, den dann willfährige Journalisten über das Fernsehen erfolgreich schönredeten. Polizisten und Carabinieri aber hatten den Eid auf die Verfassung geleistet und auf die Einhaltung und Durchsetzung der Gesetze. Und nun mussten sich die Behörden auch noch mit den Übergriffen rechter Schläger befassen, die angeblich einenSchwarzen bei einem Vergewaltigungsversuch erwischt hatten.
Nur mit Mühe hatte Laurenti Albertos Worte bei dessen Anruf verstanden. Er rätselte, woher der Somalier seine Nummer kannte, und erinnerte sich schließlich, dass er sie ihm vor Jahren gegeben hatte, als der Somali Zeuge einer Schlägerei zwischen Senegalesen und Chinesen auf der Piazza Ponterosso geworden war. Revierstreitigkeiten, bei denen einer der Afrikaner mit einer schweren Stichwunde auf der Intensivstation gelandet war. Alberto war auf seiner Verkaufstour durchs Zentrum unterwegs gewesen und konnte den Verlauf genau bezeugen. Warum aber hätte er Laurenti an diesem Samstagmorgen anrufen sollen, wenn er etwas verbrochen hatte? Schiere Angst, von den drei selbsternannten Ordnungshütern umgebracht zu werden? Möglich. Doch was machte ein muslimischer Händler morgens um sechs in diesem weitläufigen romantischen Park, dessen Tore erst viel später am Tag für das Publikum geöffnet wurden? Und wer war diese Frau? In welcher Verbindung stand sie zu ihm?
In der Malabar munkelte man, Alberto sei ein promovierter Mathematiker und in seinem Heimatland mit vier Frauen verheiratet, mit denen er ein ganzes Rudel Kinder habe. Und hier verkaufte er billigen Schmuck. Wie viel von den Gerüchten der Phantasie der trinkfesten Stammkunden der Bar entsprang, blieb unermittelbar. Nur eines stand fest, Alberto war der Chef einer ganzen Gruppe ambulanter Verkäufer, die er kontrollierte und abkassierte und von denen kaum einer mehr als den eigenen Namen preisgab. Die Behörden wussten darüber Bescheid, ihr Interesse galt den Hintermännern, an die nur schwer heranzukommen war – zu dicht war das Netz aus Erpressbarkeit und Abhängigkeiten. Und in einer solchen
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