Keine Frage des Geschmacks
hinaus. Es war ein großes Spektakel, wie die Böen über das Meerwischten und die weißen Wellenhunde mit sich forttrugen – und im nächsten Moment abbrachen, als wäre ein Schuss gefallen und hätte die Welt zum Stillstand gebracht: die Stadt der Winde. Während die Familie noch schlief, selbst für die Schwiegermutter war es noch zu früh, stand Laurenti auf der Terrasse und ahnte schon, dass das Blau des Himmels gegen Mittag gesiegt haben würde. Die Temperatur aber war gefallen, und so verzichtete er auch an diesem Sonntagmorgen auf sein morgendliches Bad in der Adria. Bereits um sieben saß er an seinem Schreibtisch.
Wenn es stimmte, was die Zeitung schrieb, dann hatte er gut daran getan und würde die zu erwartenden Gegenschläge besser kontern können. Er kontrollierte die elektronische Post und überflog den knappen Bericht des Kommissariats in Ravenna. Ungeachtet der Uhrzeit griff Laurenti zum Telefon und störte den Kollegen, der Lele gestern Nachmittag in Kur gehabt hatte, bei der Zubereitung des Familienfrühstücks.
Der Chefinspektor in Rimini erzählte sogleich, dass sich Raccaro am Tag zuvor, nach seinem Telefonat mit dem Anwalt einer prominenten Mailänder Sozietät, doch noch von dem prall gefüllten Aktenkoffer getrennt habe. Die Kollegen hatten eine ganze Weile gebraucht, bis sie die sechs Millionen abgezählt und noch einmal überprüft hatten. Zwölftausend Fünfhunderternoten. Ein hübscher Haufen, zehn Stapel von je zwanzig Zentimetern Höhe.
Doch Raccaro habe nur mitleidig gelächelt und darauf beharrt, dass es keinen Unterschied mache, ob er fünfzig Euro in der Brieftasche habe oder eben eine so hohe Summe bei sich trage. Den Banken würde er nicht mehr vertrauen, jeder wisse schließlich, was sie getrieben hätten. Und seine Generation habe neben alldem auch noch den Krieg miterlebt.
Lele erhielt eine Anzeige wegen versuchter Beweismittelhinterziehung, die er fies grinsend unterschrieb, so wie es alle taten, die sich sicher waren, dass ihre exzellenten Kontakte sieretten würden, wenn es wirklich darauf ankam. Das Geld wurde gegen Quittung sichergestellt, was er damit kommentierte, dass ihm das ganz recht sei, denn es gäbe kaum einen sichereren Ort, doch leider brachte der keine Zinsen. Anschließend wurde er auf freien Fuß gesetzt, gerade mal zwei Stunden hätten sie ihn festhalten können. Ein Taxi habe ihn direkt zum Bahnhof gefahren. Nachdem er den Zug nach Triest bestiegen hatte, verzichtete man auf die weitere Observierung. Natürlich war den Kollegen in Ravenna die Sanmarineser Limousine vor der Einfahrt zum Gelände der Küstenwache aufgefallen, doch als Beweis für illegale Geschäfte reichte dies nicht.
»Die Kollegen der Steuerbehörde habe ich unterrichtet, Commissario«, sagte der Kollege.
»Die restlichen Informationen kriegen die dann heute noch von mir.« Laurenti informierte ihn knapp über die Listen aus Aurelio Selvas Aktentasche, die Pina Cardareto analysiert hatte: Raccaros Welt – ein detailliertes Abbild seiner Geschäfte und seines Gefüges aus Abhängigkeiten. Dann notierte er sich die Daten des Beamten der Guardia di Finanza und wählte gleich dessen Nummer. Danach holte er die Staatsanwältin aus den Federn.
Die Ruhe vor dem Sturm. Laurenti legte die Füße auf den Schreibtisch und schaute zu dem Hochhaus hinüber, in dessen obersten Stockwerk der Adlerhorst lag. Er war sich sicher, dass schon am frühen Montagmorgen eine halbe Armee in graue Uniformen gekleideter Beamter der Guardia di Finanza vor dem Hochhaus und dem Palazzo Vianello vorfahren und Lele aus dem Schlaf holen würde. Bevor dieser die Möglichkeit hätte, irgendetwas zu verschleiern.
Meist waren es Kleinigkeiten, die die großen Skandale ins Rollen brachten.
*
Auf das Fragezeichen im Display seines Mobiltelefons antwortete er nach einem kurzen Zögern mit einer SMS: »Windstärke 10«. Es hatte keine tiefere Bedeutung, doch Laurenti fiel nichts Besseres ein, und warten lassen wollte er Gemma auch nicht.
Fest stand, dass die Bullenköpfe der freiwilligen Bürgerwehr Alberto zusammengeschlagen hatten. Die Blutspuren des fliegenden Händlers an den Jacken dieser Wichtigtuer waren dem Laborbericht zufolge eindeutig, das Blut der rothaarigen Journalistin war auf den Klamotten der Kerle jedoch nicht zu finden. Die DNA der Haarsträhne sowie der Hautpartikel unter ihren Fingernägeln verwiesen klar auf Aurelio Selva. Von einem zweifachen Mordversuch konnte also nicht die Rede sein.
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