Keine Frage des Geschmacks
freundlich, bis sie seine Blöße wahrnahmen und sich schlagartig von ihm abwandten. Plötzlich stand er wie gelähmt da, schutzlos den verächtlichen Blicken ausgesetzt, den Stimmen, Beschimpfungen, die immer lauter wurden und sein Trommelfell zum Bersten brachten. Dann warfen sie mit Steinen nach ihm, es setzte Ohrfeigen, Stöße und brennende Schläge auf seinen nackten Leib. Er entkam nicht, wand sich und litt unter dem Gebrüll. Er vermochte mit seinen Händen weder sein Gemächt zu bedecken noch schützend seine Ohren zuzuhalten. Seine Unterarme waren wie mit den Hüften verwachsen und seine Beine ohne Kraft. Es gelang ihm nicht einmal, sich abzuwenden. Wohin auch? Die Meute kreiste ihn ein und schien durch ihn hindurchzusehen. Und dennoch stand er im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, und die Gewalt, die von ihr ausging, galt ihm ganz allein. Da waren hochgestellte Politiker darunter, Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Showbusiness, ebenso der Bürgermeister und die ganze provinzielle Hautevolee. Am schrecklichsten waren die tief dekolletierten Weiber, die schrill kreischend über die Winzigkeit seines Geschlechtsorgans lachten und mit den Fingern darauf zeigten. Und dann war da noch das sanfte Gesicht einer weißhaarigen Frau, hinter der sich ein dicker Junge versteckte, und die ihm mit gütiger Stimme zu verstehen gab, dass alles nur zu seinem Besten sei. Er würde schon sehen. Urplötzlich verschwand ihr Gesicht hinter einem dichten Nebel. Alles begann sich zudrehen. Das Gebrüll steigerte sich. Übelkeit stieg in ihm auf. Und dann schoss ihm plötzlich eine milchige Flüssigkeit ins Gesicht. Endlich wachte er auf. Der Schweiß rann über Brust und Stirn und kitzelte in den Ohren.
Wieder einmal hatte er einen dieser eitrigen Tage, wie er sie nannte. Manchmal spürte er sie voller Angst heraufziehen. Wie ein Sommergewitter, dessen schwere, finstere Wolken sich in Windeseile von Westen über das Karstgebirge und den heiteren Himmel über dem Meer schoben und zum Schneiden dicke Luft das Atmen schwer machte. Bis der erste Blitz, begleitet von einem scharfen Donnerschlag, die Wolken spaltete und die Welt zum Schweigen brachte.
Aurelio hatte nach einem von Albträumen geplagten Schlaf die verschwitzten Laken abgestreift und sich aufgesetzt. Den Kopf verzweifelt in die Hände gestützt, versuchte er zu verstehen, weshalb er diesen Bildern, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten, nicht zu entkommen vermochte.
Der kleine Zeiger der Küchenuhr stand auf der Zehn, von draußen drang gleißendes Licht herein und, als er das Fenster öffnete, ein Schwall heißer Sommerluft. Wann war er eingeschlafen? Was war mit ihm passiert? Sein Mobiltelefon zeigte zwölf unbeantwortete Anrufe an, die meisten stammten von Lele. Er würde toben, aber was konnte der alte Sack ihm schon anhaben? Aurelio wusste zu viel von dem, worüber andere nur munkelten. Lele hatte ihn zwar nie in seine Geschäfte eingeweiht, verriet aber beiläufig so einiges. Mit Absicht? Aurelio notierte alles, sobald Lele ihm den Rücken zuwandte.
Wieder kehrten einige dieser Bilder seines gelben Traums zurück. Er schloss die Augen, versuchte sie zu entschlüsseln. Irgendwo im Hintergrund fuchtelte Lele wild mit dem Finger und zeigte auf ihn. Er war viel größer als in Wirklichkeit, überragte die anderen, erschien wie ein mächtiger Luzifer mitriesigen smaragdgrünen Augen. Aurelio schlug verzweifelt den Kopf gegen die Wand. Blinde schwarze Wut stieg in seiner Seele auf.
Mit zitternden Händen setzte er die Mokka aufs Feuer und ging in seinen Fitnessraum, wo er die Gewichte an der Kraftmaschine bis an das Limit erhöhte. Anfangs fühlte er sich schwach, doch nachdem er die Übung einige Male wiederholt und seinen Rhythmus gefunden hatte, waren seine Muskeln warm geworden, und er hatte noch immer diesen Sprengstoff im Körper, der von der panischen Angst herrührte. Als er erschöpft auf die Rückenlehne sank, vernahm er den Geruch aus der Küche. Der Kaffee war verbrannt, der Inhalt der Mokka längst verdampft, und der Gestank einer verkohlten Gummidichtung verpestete die Luft. Wütend warf er die Aluminiumkanne ins Spülbecken und stürzte zwei Gläser Wasser hinunter. Dann duschte er lange und wechselte häufig und rasch die Wassertemperatur von eiskalt zu brühheiß. Allmählich fühlte er sich frischer, doch von der inneren Ruhe, seiner Kaltblütigkeit, die ihn auszeichnete, war er weit entfernt. Mit den Jahren hatte er gelernt, die Vorzeichen
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