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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zu lesen, die seine Albträume ankündigten. Stunden zuvor erfasste ihn jedes Mal eine tiefe Unruhe, der er nicht entkommen konnte. Beim ersten Anzeichen hatte er am Abend zuvor in der Dämmerung den Malaguti-Scooter gestartet und sich wütend in den Verkehr gedrängt. Er war mit Vollgas die Rive entlanggedonnert. Erst vor wenigen Jahren hatte man die mehrspurige Uferstraße neu gestaltet, ganz so als handelte es sich um die Zielgerade der Rennstrecke von Monza. Ununterbrochen schimpfte Aurelio auf die Ampeln und auf jeden, der ihm im Weg war. Die Menschen vor den Bars wunderten sich über das Gebrüll aus dem Integralhelm und schauten ihm lachend nach.
    Aurelio drehte den Motor auf: Je schneller er ein Auto hinter sich ließ, desto ungefährlicher wurde es ihm, das galt auchfür die Fußgänger an den Zebrastreifen. Als ein feuerroter Alfa Romeo Mito mit einer blonden Frau am Steuer auf die Linksabbiegerspur ausscherte, knallte sein Ellbogen gegen den Rückspiegel des Kleinwagens. Wütend ballte er die linke Faust und reckte den Mittelfinger, während seine Rechte den Gasgriff weiter aufdrehte. Auf der Hochstraße, die am Kaffeehafen, dem Containerterminal und den Reparaturwerften vorbeiführte, überholte er rechts und fuhr den Scooter bald darauf zur Höchstgeschwindigkeit aus, die er nur in den langgezogenen Kurven zurücknahm, in denen sich die Autobahn den Karst hinaufwand. Er duckte sich tief hinter die Verkleidung und fuhr erst vor der Zahlstelle Lisert ab, um über die Landstraße nach Gorizia zu kommen und von dort ins Kanaltal nach Norden.
    Als Aurelio den Scooter zwei Stunden später vor der Stazione Rogers abstellte, fühlte er sich ruhiger. Die Zylinder seiner Maschine knisterten beim Abkühlen. Wie jeden Abend nahmen in dieser Bar viele schöne und fröhliche Menschen den Aperitif zum Sonnenuntergang. Man kannte sich, lachte und prostete sich zu. Gebräunte Haut und weiße Zähne, Haargel, Parfüm, leichte Kleidung und ausgelassene Fröhlichkeit. Er bestellte einen Cocktail und setzte sich zu ein paar Bekannten auf die gepolsterten Holzpaletten, die als Sitzmöbel vor dem Lokal aufgebaut waren. Neben ihm flirtete eine attraktive reifere Blondine mit dem Skipper, Enrico D’Agostino, den hier jeder kannte und der ein paar hundert Meter entfernt an den Rive eine schicke Wohnung voller Kunstwerke besaß. Die Frau strich immer wieder eine Strähne ihres dicken langen Haares hinters Ohr und lächelte, während D’Agostino deutlich hörbar von der Magie eines Segeltörns schwärmte, wenn die Yacht bei gutem Wind in stabiler Krängung über die Wellen der Adria glitt und man abends im Hafen einer der kleinen Inseln der Kornaten festmachte, die man mit dem Auto nicht erreichen konnte, wo aber derWirt der einzigen Trattoria fangfrischen Fisch und Langusten servierte.
    »Kitsch zum Weiberabschleppen«, murmelte Aurelio und sah auf die Uhr. Es war Zeit, sich wieder auf die Spur der Engländerin zu machen.
     
    *
     
    Gegen Mittag betrat Aurelio den Palazzo Vianello, setzte sich an seinen Schreibtisch in Leles Vorzimmer und überflog die Zeitungen.
    »Komm rüber und schließ die Tür hinter dir«, schnauzte der Alte so giftig, dass Aurelio aus seiner Lektüre aufschreckte. Widerwillig kam er dem Befehl nach. Die schallgedämpfte Tür zum Büro des Chefs zog er fest hinter sich ins Schloss. Lele klappte den wöchentlichen Wirtschaftsbericht seiner Ladenkette zu und lehnte sich in dem riesigen Ledersessel zurück, dessen Rückenlehne ihn zwei Handbreit überragte. Seine Füße berührten kaum das Parkett. Auf seinem Schreibtisch lagen zwei aufgeschlagene Tageszeitungen, deren Inhalt Aurelio bereits kannte.
    »Warum lügst du mich an?«, giftete Lele mit einer Fistelstimme, die wie das Rasseln einer Klapperschlange immer schärfer wurde. »Ich hatte dich davor gewarnt, mir mit dem Mist in die Quere zu kommen. Und jetzt steht es in der Zeitung. Von wegen Etagenkellner, du hast mit deinem Bruder gemeinsame Sache gemacht.«
    »Er ist nicht mein Bruder«, antwortete Aurelio beleidigt.
    »Nenn ihn, wie du willst. Und untersteh dich, mir weitere Lügen aufzutischen. Also raus mit der Sprache. Ich will jetzt alles wissen, bis ins letzte Detail. Und dann entscheide ich, was du tun wirst. Verstanden?«
    Aurelio haderte einen Augenblick. Dann unterbreitete er Lele seine Variante der Geschichte, in der er Giulio Gazza alseinen hemmungslosen Spanner und Erpresser vorführte und ankündigte, auch er werde gerichtlich gegen ihn

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