Keine Gnade
bewegen würde, sie auf die Toilette zu lassen.
Neben dem Bett fiel McKenzie ein kleiner Rollwagen auf, auf dem seltsam aussehende Instrumente lagen. Sie konnte nicht erkennen, wofür sie waren. Julian griff nach etwas, das wie ein Skalpell aussah, und schnitt die beiden Nylonriemen durch, mit denen ihre Knöchel am Bett befestigt waren. Er hielt ihr das Skalpell direkt vors Gesicht. »Sie werden nichts Dummes anstellen, wenn ich Sie losmache, nicht wahr?«
Sein Gesicht sah jetzt so völlig anders aus als das Gesicht des charmanten Mannes, den sie in ihrem Yogaunterricht getroffen hatte, der Mann, der ihren Selbsterhaltungsme chanismus durchbrochen hatte und der sie höchstwahrschein Âlich töten würde. Sie entdeckte eine Intensität in seinen Augen, die sie schaudern lieÃ.
Er schnitt die Riemen durch, die ihre Handgelenke fixierten, und führte sie zum Badezimmer, wobei er dicht hinter ihr ging. »Sie haben fünf Minuten.«
Sie ging ins Badezimmer, wobei ihr schreckliche Gedanken über ihr bevorstehendes Schicksal durch den Kopf wirbelten. Sie wusste nun ohne den geringsten Zweifel, dass ihr Kidnapper der Mann war, den der San Diego Chronicle als den Reanimator bezeichnete, der Serienkiller, der an seinen Opfern barbarische Experimente vornahm. Da McKenzie OâNeill nun hellwach und frei war von den NebenwirÂkungen der Drogen, war sie tatsächlich vor Angst wie von Sinnen.
Als sie im Badezimmer saà und hemmungslos zitterte, wurde ihr klar, dass sie diese Tortur nur überleben könnte, wenn sie Julian irgendwie überwältigte, bevor er sie wieder am Bett festband. Doch wie konnte eine Frau von knapp sechzig Kilo einen Mann von etwa neunzig Kilo bezwingen? Verzweifelt zog sie leise den Waschtisch auf und sah sich nach einer möglichen Waffe um.
»Noch drei Minuten, McKenzie«, hallte seine Stimme von der anderen Seite der Badezimmertür.
Im Waschtisch konnte sie nichts finden. Nun überprüfte sie das Medizinschränkchen. Aspirin. Magentabletten. Baum Âwollstäbchen. Zahnpasta.
Panik stieg in ihr hoch.
Ihre letzte Hoffnung war der Bereich unter dem Waschtisch, in dem der untere Teil des Waschbeckens und die Abflüsse verborgen waren. Sie öffnete die Türen, ging in die Hocke und schob allen möglichen Kram beiseite.
Mundwasser. Hustensirup. Pflaster. Sonnenblocker. CremeÂseife.
Als sie schon aufgeben wollte, entdeckte McKenzie eine Schere. Sie sah aus wie eine Schere zum Haareschneiden, die Klingen spitz zulaufend und ungefähr zehn Zentimeter lang. Was könnte sie mit dieser Schere anfangen? Könnte sie ihn damit so stark verletzen, dass Julian wenigstens für die Zeit, die sie brauchte, um durch die Tür zu fliehen, auÃer Gefecht gesetzt wäre? Vielleicht hatte sie so viel Glück und könnte das Arschloch sogar töten? Sehr zu ihrer Ãberraschung fand McKenzie OâNeill, Pazifistin, Vegetarierin und Tieraktivistin, die Vorstellung, Julian zu töten, ziemlich verlockend. Die Frau, die beim Gehen auch auf Ameisen Rücksicht nahm, machte sich mit dem Gedanken vertraut, einen anderen Menschen zu töten. Wäre sie dazu überhaupt in der Lage?
»Wenn Sie nicht in einer Minute wieder drauÃen sind«, drohte Julian, »dann komme ich rein.«
Ja, dachte sie. Ich könnte ihn töten.
Sie grübelte fieberhaft, versuchte eine Möglichkeit zu finden, ihn lange genug abzulenken, um zuschlagen zu können. Welche Stelle an seinem Körper wäre für einen Angriff am geeignetsten? Und wenn sie ihr Ziel verfehlte? Was würde er ihr im Gegenzug antun? Ihre zwiespältigen Ãberlegungen wurden durch die harte Realität eingeholt.
Er wird mich sowieso töten, da wird es keinen Unterschied machen, ob ich ihn wütend mache oder nicht.
McKenzie schob die Schere sorgfältig mit der Spitze vorÂan hinten in ihre Caprihose, doch dann fiel ihr ein, wenn Julian hinter ihr ging, wenn er sie zum Bett zurückbrachte, könnte er die Umrisse der Schere durch ihre enganliegende Hose sehen. Doch wo könnte sie die Schere sonst verstecken, in ihrem BH ?
Für lange Ãberlegungen war keine Zeit mehr.
Sie kam aus dem Badezimmer, stand an der Tür und blickte Julian an. Wenn sie ihn dazu bringen könnte, ihr auf dem Weg zum Bett voranzugehen, könnte sie die Schere möglicherweise tief seitlich in seinen Hals rammen und seine Halsschlagader verletzen. Das, davon
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