Keine Gnade
Male hätte sie am liebsten geantwortet: »Ich weià verdammt noch mal nicht, wie ich mich fühle, Doktor. Darum liege ich ja auch auf diesem kalten Ledersofa.«
Doktor J war um die fünfzig, zweimal geschieden, dünn wie ein Bleistift und hatte perfekte Zähne. Die Wände in ihrer Praxis hingen voll mit Akkreditierungen und Auszeichnungen von unzähligen Universitäten, und hätte sie Jura studiert, wäre sie eine unschlagbare Prozessanwältin gewesen. Die erfahrene Therapeutin hatte während der letzten fünfundzwanzig Jahre alles zu Ohren bekommen â jedes Argument, jede Entschuldigung, jeden Vorwand. Und Sami war überzeugt davon, dass ihr nie jemand die Stirn bieten konnte.
Anstatt den Aufzug zum Zimmer 605 zu nehmen, entschied sich Sami für die Treppe und lief die sechs Stockwerke nach oben. Es war mühsam, und ihr war klar, dass ihr Körper ihr damit etwas sagen wollte. Ihre Powerwalks fanden jetzt nur noch ein- oder zweimal die Woche statt, und das Tempo war so langsam geworden, dass ihr Herz nicht mehr schnell hämmerte, sondern eher wie bei einem gemütlichen Sonntagsspaziergang schlug. Wie jeder, der nicht mehr regelmäÃig seinem Gesundheitssport nachging, hatte sie ihre Entschuldigungen schnell bei der Hand. »Es ist zu heiÃ.«/»Es ist zu kalt.«/»Meinem Rücken geht es nicht gut.«/»Ich muss für eine Prüfung lernen.«/»Habe immer noch diese Blase am FuÃ.« Ihre Klassenkameraden konnte sie damit verscheiÃern. Und Al? Fragte nicht nach. Sogar ihre Mutter, die das Wort misstrauisch neu erfunden hatte, schluckte hin und wieder ihre Entschuldigungen. Aber sie konnte sich nicht selbst belügen. Sie war zurzeit irgendwie nicht richtig moÂtiviert. Und was machte es schon, wenn sie ein paar ExtraÂpfunde mit sich herumtrug? Interessierte das wirklich jemanden?
Natürlich, Dummchen. Wem willst du gerade etwas vormachen? Al interessierte es. Vielleicht hatte er deshalb keine Lust auf Sex gehabt. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Psychogebabbel.
Wie immer, wenn Sami in das Büro von Doktor J kam, saà die Ãrztin an ihrem Schreibtisch, die Lesebrille auf der Nase, und war in Unterlagen vertieft. Heute trug die immer tadellos gekleidete Therapeutin einen waldgrünen HoÂsenanzug, eine weiÃe Seidenbluse und eine Perlenkette. Sami kam nun schon fast ein Jahr zu Doktor J und hatte sie noch nie zweimal in demselben Outfit gesehen. Ihre Kleiderschränke mussten unvorstellbar groà sein, dachte Sami.
An Doktor Js Status gemessen und ihrem Ruf, wichtige Patienten zu haben, von denen viele reich waren, wirkte ihr Büro so überhaupt nicht beeindruckend. Es war nüchtern und angemessen, aber bescheiden und ohne Firlefanz einÂgerichtet. Wenn Dollars und Cents über den Erfolg einer Therapeutin Aufschluss gaben, dann konnte man bei einem Honorar von dreihundertfünfzig Dollar für eine fünfzigÂminütige Sitzung sagen, dass Doktor J in der Tat erfolgreich war. Natürlich musste Sami diesen unglaublich hohen Satz nicht bezahlen. Wie sollte eine Studentin, deren Erspartes zunehmend schwand und die so gut wie kein Einkommen hatte, sich das leisten können? Nachdem sie bei der Polizei von San Diego ausgestiegen war, hatte das Department groÃzügig angeboten, einen GroÃteil der Kosten ihrer Therapie zu übernehmen. Sami wusste es nicht genau, ging aber davon aus, dass diese groÃzügige Vergünstigung direkt von Bürgermeisterin Sullivan kam.
»Guten Morgen, Doktor J«, sagte Sami. »Schöner Anzug.« Sami, die vertraut war mit der Routine, lieà sich schwer auf das abgewetzte Ledersofa fallen.
»Ich brauche nur noch eine Minute, Sami.« Doktor J schob Unterlagen zusammen und machte sich Notizen. Nach einigen Minuten sah sie auf die Uhr, schrieb etwas auf den gelben Block und legte ihre Lesebrille auf den Schreibtisch. »Nun haben Sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Was gibt es Neues bei Ihnen?«
»Sollte nur noch eine einzige Krise auftauchen, dann wird mein Hirn dichtmachen.«
»Okay, ich weià von der Operation Ihrer Mutter heute Morgen und von Als Situation mit seiner Schwester in Rio, aber erzählen Sie. Was ist los?«
»Die Alpträume sind wiedergekommen.«
»Simon?«
Sami nickte. »Für eine Weile hatte ich Ruhe, aber sobald Al nach Rio abgefahren
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