Keine Gnade
wird Al in Rio bleiben?«
»Wenn ich es nur wüsste.«
»Unter den gegebenen Umständen gibt es keine Möglichkeit, die Widerstandsfähigkeit Ihrer Beziehung mit Al einzuschätzen. Sie beide sind viel zu abgelenkt. Wenn sich die Dinge wieder ein wenig beruhigt haben â und ich verspreche Ihnen, das werden sie â, dann setzen Sie sich mit ihm hin und erzählen ihm, was Sie empfinden. So ein Austausch kann Wunder wirken.«
Sami saà still da und dachte über Doktor Js Rat nach. Irgendwie schien sie heute viel gesprächiger zu sein als in früheren Sitzungen. Und Sami hatte die Worte nicht gehört, die sie am meisten fürchtete: »Und wie geht es Ihnen dabei, Sami?« Wieso war sie heute so umgänglich?
»So«, meinte Doktor J, »und Sie hadern immer noch mit Ihrem Abschied von der Mordkommission?«
»Jeden Tag.«
»Was ist denn aus Ihrer Leidenschaft für die Sozialarbeit geworden?«
»Die Wirklichkeit hat zugeschlagen. Vielleicht habe ich mich einer Utopie hingegeben.«
»Sie haben fast zwei Jahre in die Ausbildung investiert. Wollen Sie Ihren Plan wirklich aufgeben, und all Ihre harte Arbeit war umsonst?«
»Das ist die Frage, die sich mir aufdrängt, Doktor J.«
»Was würden Sie machen, wenn Sie die Uni abbrechen?«
»Beten, dass die Polizeibehörde mich wieder einstellt.«
» Wirklich ? Ist das denn überhaupt möglich?«
»Bin ich mir nicht sicher.«
Doktor J erhob sich, lehnte sich gegen ihren Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Bis heute waren Sie fest davon überzeugt, dass Sie einfach nicht dafür geschaffen sind, ein Cop zu sein, und dass Sie diese Karriere nur eingeschlagen haben, weil Sie es Ihrem Vater versprochen hatten, richtig?«
»Das stimmt.«
»Und was hat sich geändert? Wie können Sie Ihre Einstellung so plötzlich ändern? Was ist passiert?«
»Menschen ändern ihre Meinung jeden Tag, oder etwa nicht?«
»Doch schon, aber Sie haben eine Nahtoderfahrung durchgemacht, ein Ereignis, das Ihr ganzes Bezugssystem verändert hat. Sind Sie wirklich bereit, jeden Tag Ihres Lebens mit Gewalt und Mord zu tun zu haben?«
»Wenn Sie es so ausdrücken, dann bin ich mir nicht so sicher.« Sami stiegen Tränen in die Augen. »Aber ich bin mir sowieso nicht mehr sicher, was ich überhaupt über irgendetwas glauben soll.«
»Das machen wir alle durch, Sami. Es ist nicht ungewöhnlich, dass das Leben einem wie ein auÃer Kontrolle geratener Zug vorkommt. Es gehört zum Menschsein.« Doktor J setzte sich neben Sami und legte ihr den Arm um die Schultern. »Vielleicht sollten wir hier heute aufhören. Vor Ihnen liegt ein wichtiger Tag, und ich â¦Â«
»Es geht mir gut, Doktor. Wirklich. Ist nur ein vorübergehender Anfall.«
»Wollen Sie wirklich weitermachen?«
Sami schaute auf ihre Uhr. »Wir haben noch zwanzig Minuten, bevor Sie mich hier rauswerfen, und ich möchte die Zeit voll ausschöpfen.«
»Ich werde hier keinen Eiertanz veranstalten«, entgegnete Doktor J.
»Geben Sie Ihr Bestes, Doktor.«
Doktor J stützte ihre Ellbogen auf die Armlehnen und legte ihr Kinn auf ihre gefalteten Hände. »Als Sie mir erzählt haben, was Sie denken, wenn Sie ins Bett gehen, haben Sie alles Mögliche erwähnt, aber mit keinem Wort Simon. Denken Sie nicht über ihn nach?«
»Wenn ich über ihn nachdenke, dann ist es mir nicht bewusst.«
»Aber selbst wenn Sie glauben, dass Sie ihn nicht im Sinn haben, wenn Sie schlafen gehen, so haben Sie doch eindringliche Alpträume über ihn.«
»Genau.«
Doktor J machte sich noch mehr Notizen auf dem gelben Block. Sie starrte auf etwas auf der anderen Seite des Büros. »Simon wird bald mit einer Todesspritze hingerichtet, stimmt das?«
»Das stimmt.«
»Sagen Sie mir, wie es Ihnen dabei geht.«
Ah, da war es nun. Endlich. Die Frage, die Sami am meisten hasste. Und sie war fast erleichtert. »Ich will nicht, dass dieser Mistkerl von seinem Elend erlöst wird. Ich will, dass er für die nächsten vierzig Jahre wie ein Tier in einem Käfig leben muss, denn nichts anderes ist er. Ich will, dass ein riesiger Kerl ihn sich vornimmt. Ich will, dass der ScheiÃkerl leiden muss.«
»Sie sind nicht der Meinung, dass er getötet werden soll?«
»Der Tod ist zu barmherzig.«
»In
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