Keine Gnade
glaubte, so war er doch überzeugt, dass es für ihn der einzig mögliche Weg war, ohne weitere Ablenkung mit seiner Forschung fortfahren zu können.
Er blickte die Frau an, die hinter ihm stand. Sie stand vorgebeugt da, einen Rosenkranz in ihren faltigen Händen, ein Kopftuch umgebunden, und beachtete ihn kaum.
Da er davon ausging, dass sie Probleme beim Stehen hatte, bot er ihr den Vortritt an.
»Vielen Dank, mein Lieber, aber nein.« Sie hielt den Rosenkranz hoch. »Ich möchte gern zu Ende beten, bevor ich hineingehe.«
Die Tür vom Beichtstuhl öffnete sich, ein junger Mann trat heraus und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Julian ging einige Schritte auf den Beichtstuhl zu, blieb aber plötzlich stehen.
Wem mache ich hier eigentlich etwas vor? Das geht doch nicht.
Als er nun kurz davor stand, vor einem Priester zu knien und ihm sein Herz auszuschütten, wurde Julian klar, dass es dumm und selbstzerstörerisch war. Nur weil der Priester dem Beichtgeheimnis unterlag, wie konnte Julian wissen, dass er sich nicht doch mit der Polizei in Verbindung setzte? Wie viele Ministranten waren denn von Priestern missbraucht worden, obwohl sie das Keuschheitsgelübde abgelegt hatten? Die Beichte war nicht der Weg. Dieses Problem musste er ganz für sich allein lösen. Entschlossener denn je, sein Forschungsvorhaben trotz seiner emotionalen Erschütterungen zu Ende zu bringen, verlieà Julian die Kirche wie ein Mann, der aus einem brennenden Gebäude flüchtet.
Der Montagmorgen war schneller da, als Sami gedacht hatte. Ihre Therapeutin hatte ihr ein besonderes Zugeständnis gemacht und eine Sitzung am frühen Morgen anberaumt, damit sie noch eine Stunde vor der Operation ihrer Mutter im Krankenhaus sein konnte. Sami hatte diesen Termin mit Doktor Janowitz nicht gewollt, tatsächlich hatte sie alles versucht, um ihn zu verschieben. Doch Doktor J, wie Sami sie liebevoll nannte, hatte sie davon überzeugt, dass es ihr nützen würde, wenn sie sich noch vor der Operation ihrer Mutter unterhielten.
Bevor sie sich für den Tag fertig machte, der ihre Nerven wahrlich auf die Probe stellen würde, schaute Sami bei ÂAngelina ins Zimmer, dann bei Emily. Beide schliefen tief und fest. Emily war so ein Segen für sie. Sami schaltete den FernÂseher ein und stellte auf den lokalen Nachrichtenkanal. Im Badezimmer konnte sie zwar den Bildschirm nicht sehen, den Ton aber deutlich hören. Gerade als sie ihre Zähne putzen wollte, hörte sie eine bekannte Stimme. Sie rannte ins Wohnzimmer und stellte lauter. Police Chief Larson stand auf den Stufen der City Hall und sprach zur Presse. Es musste wichtig sein, was er zu dieser frühen Stunde zu sagen hatte.
»Um ungefähr vier Uhr heute Morgen«, sagte Chief Larson , »haben ein paar Jogger, die früh unterwegs waren, die Leiche eines jungen Mannes auf dem Mount-Hope-Friedhof in La Mesa gefunden. Wir haben die Leiche noch nicht identifiziert, aber wir werden alles daransetzen, um so schnell wie möglich herÂauszufinden, um wen es sich handelt.«
Die Reporter bombardierten den Chief der Polizei mit Fragen, von denen er die meisten nicht beantworten konnte oder wollte. Dann fragte ein Reporter: »Gibt es irgendeine Verbindung zwischen diesem Mord und dem Mord an Genevieve Foster?«
»Es gibt Ãhnlichkeiten, aber zu diesem Zeitpunkt kann ich Ihnen keine Einzelheiten nennen.«
Sami nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher ab, ihre Hand zitterte heftig. Eine Million Fragen rasten ihr durch den Kopf â alle drehten sich um die Möglichkeit, dass wieder ein Serienkiller die StraÃen von San Diego unsicher machte. Vielleicht wieder ein Simon. Sami sollte sich jetzt eigentlich auf ihre Mutter und deren Operation konzenÂtrieren, doch dazu müsste sie diese beunruhigenden GeÂdanken aus ihrem Kopf bekommen, was sich als eine Herausforderung erweisen könnte, auf die sie nicht vorbereitet war.
Sami fuhr auf den Parkplatz am La Jolla Village Drive, und wie sie es schon Dutzende Male vorher getan hatte, blieb sie noch einige Minuten im Wagen sitzen, um sich für das anstrengende Gespräch mit Doktor Janowitz zu motivieren. Natürlich war es schwierig für Sami, ihre Sitzungen als Gespräch zu bezeichnen. Es war eher so, dass Sami ihr Herz ausschüttete und Doktor J immer dieselbe Frage stellte: »Und wie geht es Ihnen dabei, Sami?« Und wie viele
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