Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
auf und quatscht dich an, in der irrigen Annahme, du würdest dich darüber freuen. Meistens Typen, die du nicht mal mit der Kneifzange anfassen würdest. Du betest innerlich, dass sie den Wink verstehen und sich wieder verziehen, aber nein, oft muss man zu drastischeren Mitteln greifen, muss vorschützen verheiratet oder lesbisch zu sein, damit die Botschaft durchdringt. Also: Man stelle sich so einen Typen vor. Er kommt und setzt sich zu dir an einen windigen, wackeligen kleinen Tisch mit Papiertischdeckchen, das dir bei jeder Bewegung im Weg ist und dich in den Wahnsinn treibt. Und der Typ ist alles andere als gut aussehend, ja, man wäre schon glücklich, wenn er durchschnittlich aussähe. Weit gefehlt. Und – was das Schlimmste ist – statte dieses männliche Prachtexemplar mit der Überzeugung aus, dass du entzückt darüber bist, ihn drei Minuten lang vor dir sitzen zu haben. Dass es dich tatsächlich freut, wenn er dich mit intimen Fragen löchert, schlimmer noch, er weiß, dass du gutes Geld bezahlt hast, um dies erleben zu dürfen. Und er genießt es in vollen Zügen.
Am schlimmsten sind diejenigen, die versuchen, das Eis mit besonders »originellen« Fragen zu brechen. Meine bisherigen Favoriten: »Wenn du ein Gemüse wärst, welches würdest du gerne sein?« Dicht gefolgt von »welche Sorte Nuss wärst du gern?« Und ein anderer fragte mich, etwa dreißig Sekunden nachdem wir uns einander bekannt gemacht hatten – was ich sehr zurückhaltend fand -: »Was ist deine liebste Sexfantasie?« Nun ja, sie können nichts dafür, die armen Trottel, sie befolgen ja nur die Ratschläge auf dem Bewertungsbogen. Da heißt es: »Es empfielt sich, immer ein paar Fragen in petto zu haben, falls einem der Gesprächsstoff ausgeht. Von einer Liste mit vorformulierten Fragen wird jedoch abgeraten.«
Um die Monotonie des Abends ein wenig erträglicher zu machen, bin ich in meiner Verzweiflung auf die Idee verfallen, mir eine Reihe spannender Identitäten zuzulegen. Dem einen habe ich erzählt, ich besäße einen Juwelierladen in Weston-Super-Mare und dächte daran, eine Kette zu eröffnen. Einem anderen schwindelte ich vor, ich sei Politik- und Soziologieprofessorin, was ich jedoch sofort bereute, kaum dass es mir herausgerutscht war. In den folgenden drei Minuten saß ich wie auf Kohlen und betete, dass er mir keine Fragen zur Tagespolitik oder zu Soziologie stellen würde. Und schließlich behauptete ich, eine Feuerwehrfrau aus Essex zu sein, die in einem Kibbuz aufgewachsen war. Man merke: In drei Minuten glaubt man dir fast alles.
Keine Ahnung, woher all diese Ideen auf einmal kamen, aber ich hatte ganz einfach Angst, mein Gehirn könnte nach dem dritten Schnelldurchlauf meiner wahren Lebensgeschichte einfach einpacken und abreisen. Die einzige Rettung war, es auf diese Weise ein wenig spannender zu machen – kindisch, ich weiß, aber was soll man machen. Ich gebe selbst zu, dass ich nicht sehr geduldig bin, aber meine Geschichte dreiundzwanzig Mal an einem Abend zu erzählen – das geht über meine Kraft. Und es macht Spaß, sich alle möglichen alternativen Amelies auszudenken. Was ich vielleicht hätte werden können, wenn... Als wäre mein Leben eins von diesen Abenteuerbüchern, wo der Leser selbst entscheiden kann, wie es weitergeht. Vor fünf Minuten war ich die Rechtsanwältin, die ich schon immer sein wollte. Glücklicherweise ist Amelie, die Streiterin für Menschenrechte, inzwischen von der Justiz desillusioniert und nun auf der Suche nach einem kreativeren Betätigungsfeld. Es scheint also, als hätte ich am Ende doch die richtige Entscheidung getroffen! Und vor einer halben Stunde war ich die (Prima)Ballerina, die sich meine Mutter so sehr gewünscht hätte, und das war richtig nett. Wie gesagt, es ist kindisch, aber auch die beste Art Eskapismus, die ich mir denken kann... Alle drei Minuten in eine völlig neue Identität schlüpfen... was ist befreiender als dies? Und ohne dieses Spiel hätte ich mich sicher in eine schreiende Irre verwandelt – Veranstaltungen wie diese sind ungeeignet für Menschen, die sich schnell langweilen. Ach, mein Handy klingelt. Kacke, das ist Duncan – ich muss zurück in den Boxring. Letzte Runde. Bis später.
Barleiche, All Bar One, 22:00 Uhr
Hilfe, wer rettet mich?!
Hab meine Stimme verloren. Hab allen Lebensmut verloren. Und meinen Glauben an die Menschheit. Sitze auf einem Barhocker und lausche mit müden Ohren Aretha Franklin. Gott, das war der ödeste
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