Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
Mitternacht
Gott sei Dank, endlich daheim. Nicht zu fassen, dass ich sämtliche dreiundzwanzig Dates lebend überstanden habe. Musste so laut schreien, um mich in dieser abscheulichen Schuldisco verständlich zu machen, dass ich meiner Stimme jetzt vollkommen verlustig geworden bin. Diese Fast-Love-Leute haben wirklich auch noch das Letzte aus den gemieteten Räumlichkeiten rausgeholt. Nachdem wir eine Ewigkeit im Barraum gewartet hatten, wurden wir endlich in ein stickiges Hinterzimmer geführt, das so mit Tischchen vollgestopft war, dass man buchstäblich schreien musste, um seine eifrig disputierenden Nachbarn zu übertönen. Eine Atmosphäre, bei der man kaum denken, geschweige denn wirklich reden konnte. Hinzu kam das ständige enervierende Läuten dieser Glocke, alle drei Minuten, ding-dong, ding-dong. Als ich es zum ersten Mal hörte, fühlte ich mich unwillkürlich in meine Schulzeit zurückversetzt, war auf einmal wieder eine bezopfte Neunjährige und rannte um den Pausenhof, rannte und rannte vor Asif davon, dem dicken Asif aus meiner Klasse, der mir immer seine nassen Küsse aufdrängen wollte. Ich rannte, bis ich das erlösende Schellen der Schulglocke hörte, das einem durch die Ohren, durchs Hirn schnitt, mich aber gleichzeitig von einem Schicksal, schlimmer als der Tod erlöste. Wieder zurück auf der Erde, oder besser in der Dating-Hölle, fand ich mich plötzlich Auge in Auge mit einem Börsenmakler namens Aswad. Der Gedanke, dass mich dieselbe Glocke nach siebzehn Jahren vor einer ganz ähnlichen Kuss-Jagd rettete, ließ mich heimlich lächeln.
Küche, 4:00 Uhr morgens
Kann nicht schlafen, und da ich das Abendessen ausgelassen habe, bin ich nun in meinen Eiscreme-Notvorrat eingebrochen. Der Abend lässt mich einfach nicht los, geht mir um und um im Kopf und lässt mich nicht einschlafen. Was für ein surreales Erlebnis. Ein abgedroschener Ausdruck, wenn man bedenkt, dass ich ihn von fast jedem Date gehört habe, aber bei mir trifft es wirklich zu – es war surreal, verstörend sogar. Als habe die Totenglocke das Ende jeder Romantik eingeläutet. Stimmt es? Gibt es heutzutage wirklich keine Romantik mehr? Ist es nicht mehr möglich, auf normalem, alltäglichem Wege einen Partner zu finden? Gehört diese Vorstellung vielleicht einer ausgestorbenen, archaischen Vergangenheit an? Ich glaube, das ist der eigentliche Grund, warum ich das alles mit solcher Skepsis betrachte – weil die Vorstellung von »Speed-Dating« so total gegen alles spricht, was meiner Ansicht nach die Liebe ausmachen sollte.
Ich nehme mir das Ganze zu sehr zu Herzen. Vielleicht bin ich ja zu empfindlich, zu puristisch, was das alles betrifft, aber ich kann nicht umhin mich zu fragen, was Jane Austen zu einem Abend sagen würde, wie ich ihn gerade hinter mir habe?
Ein schwuler Freund von mir hat mir einmal etwas erzählt – eine wahre Geschichte! -, was mich einfach umgehauen hat. Es ist meiner Meinung nach die romantischste moderne Liebesgeschichte, die ich in diesem Jahrzehnt gehört habe. Es ist die Geschichte, wie er und sein Lebensgefährte einander vor fünf Jahren kennen lernten. Sam – er ist einer unserer Finanzplaner – war eines Abends sturzbetrunken und hat mir seine Geschichte erzählt. Sie ist kurz und süß – vielleicht findest du sie ja gar nicht romantisch im traditionellen Sinne, liebes Tagebuch, aber mich hat sie jedenfalls tief bewegt.
Sam saß eines Samstagmorgens um drei Uhr an einer Bushaltestelle. Ein Mann tauchte auf und ließ sich unweit von ihm nieder. Er kannte den jungen Mann nicht, doch nahm er ihn unbewusst als äußerst attraktiv wahr. Niemand sonst weit und breit, sie waren vollkommen allein. Nach ein paar Sekunden tauschten sie einen scheuen Blick und ein Lächeln.
»Ich heiße Dave und wohne nur fünf Minuten von hier entfernt.«
Darauf gab es nach Sams Meinung, nur eine Antwort: »Ich heiße Sam und wohne verflucht noch mal am anderen Ende der Stadt. Komm, gehen wir zu dir.«
Fünf Jahre später und der Rest ist Geschichte. Heute ist er die Liebe seines Lebens, und sie sind das wundervollste Paar, das ich kenne. Ich war sogar bei ihrer Hochzeit. Dave und Sam sind für mich der Beweis dafür, dass Speed-Dating mitunter ganz natürlich geschieht. Man braucht nicht einmal drei Minuten dafür.
Im Büro, Montag, 10. Januar, 11:00 Uhr
Hatte heute eins dieser typischen U-Bahn-Erlebnisse. Von der Art, wo du in deinem übermüdeten und/oder verkaterten Zustand annimmst, dass
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