Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
Sie versuchte die Neuigkeiten des Abends zu verdauen.
Zwanzig Minuten später wurde sie mit einem Ruck wach und sah die Graffiti-bemalten Wände der Abbey Road Studios an sich vorbeiziehen. Sie war fast da. Automatisch drückte sie auf den Halteknopf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sicher würden ihre Kontaktlinsen jetzt wieder an den Augäpfeln kleben. Mit einem resignierten Seufzer stellte sie sich auf ein längeres Gepule und Gefiesel ein, um die blöden Dinger herauszukriegen.
An der Ecke Abercorn Place stieg sie aus und zündete sich eine Zigarette an. Tief inhalierend schlenderte sie die ansteigende Straße zu ihrer Wohnung am Violet Hill hinauf. Dort angekommen hob sie ihre Post auf und begann sie müßig durchzusehen, während sie gleichzeitig in die Küche ging. »Hallo, Malibu«, begrüßte sie das kleine weiße Pelzbündel, ihr neues Kätzchen, und bückte sich, um es zu streicheln. »Wie war dein Tag? Meiner war nicht schlecht«, antwortete sie sich, setzte den Wasserkessel auf und ließ sich erschöpft aufs Sofa plumpsen. Sie blickte sich in ihrer Wohnung um. Überall an den Wänden hingen Fotos und Bilder von ihren Reisen, die sie mit Anfang zwanzig unternommen hatte. Da waren Fotos, auf denen sie selbst und Claire zu sehen waren, aus der Schulzeit und aus den Uni-Tagen und Fotos mit Freunden, die sie während ihrer einjährigen Reise durch Asien und Südafrika gemacht hatte. All dies schien jetzt auf einmal weit hinter ihr zu liegen, eine ferne, idyllische Zeit, in der alles möglich schien, alles, bloß nicht älter zu werden, erwachsen zu werden, auf einem festen Platz im Leben zu kleben.
Der Kessel begann zu zischen, und Amelie erhob sich gähnend, um sich eine Tasse Tee zu machen. Während sie trank, überlegte sie, dass in nicht ganz einem Monat ihre älteste Freundin verheiratet sein und wahrscheinlich eine eigene Familie gründen würde. Alles schien auf einen Schlag anders geworden zu sein. Und da war er wieder, dieser lästige kleine Gedanke, der glimmte und nicht ausgehen wollte – der Gedanke, dass sie, tief in ihrem Innern, genug von diesem Singledasein hatte. Sie liebte zwar die Spontaneität und Unabhängigkeit, die es mit sich brachte, doch mehr und mehr begann sie ihre Einsamkeit zu spüren. Amelie begann sich zu fragen, ob es nicht wirklich besser wäre, jemanden zu haben, zu dem man nach Hause kommen konnte. Jemand – mit zwei Beinen, nicht mit vier -, der einem eine Tasse Tee machen und mit dem man die Ereignisse des Tages besprechen könnte. Zum ersten Mal seit sie mit Jack Schluss gemacht hatte, begann Amelie sich ein klein wenig einsam und verloren zu fühlen.
6. KAPITEL
Liebesbisse
Büro, Dienstag, 18. Januar, 11:00 Uhr
Was werden sich die Vermarkter der Liebe denn noch alles einfallen lassen? Bin gerade auf etwas gestoßen, das eine erfrischende Alternative zum Speed-Dating darstellen könnte. Offenbar gibt es seit neuestem etwas, dass sich »Dating in the Dark« nennt. Klingt faszinierend. Ich habe mich im Internet ein bisschen schlau gemacht. Was passiert, ist, man trifft sich mit Leuten zum Essen, die man nicht kennt. Man unterhält sich und lernt einander kennen, wie auf einer ganz normalen Dinnerparty. Der einzige Unterschied ist, dass man sich nicht sieht. Ich finde das eine großartige Idee. Man lernt einen Menschen kennen, wie er ist, ohne Voreingenommenheit bezüglich seines Aussehens. Und dann, wenn das Licht angeht, kann man all den körperlosen Stimmen ein Gesicht zuordnen – und entscheiden, ob man zueinander passt oder nicht.
Das klingt alles sehr faszinierend, doch habe ich einen schwerwiegenden Vorbehalt: Meine Sorge ist, dass meine Tischmanieren unter den gegebenen Umständen noch mehr leiden könnten als ohnehin schon. Ich sehe es vor mir – wie ich mich frohgemut mit all jenen körperlosen Stimmen unterhalte, insgeheim jedoch mit Horror dem Angehen der Lichter entgegensehe, aus Angst was sie enthüllen könnten, nämlich dass der Großteil meines Dinners in meinem Schoß oder auf meiner Brust gelandet ist. Die Lichter gehen an, und ich blicke ins Antlitz der Liebe meines Lebens, die jedoch angesichts meines Anblicks angewidert das Gesicht verzieht.
Wenn ich’s recht bedenke, könnte sich schon der leiseste Anflug von Enttäuschung in der Miene des anderen verheerend aufs Selbstwertgefühl auswirken. Da wird man in einer Sekunde um Wochen zurückgeworfen, was das mühsam aufgebaute Selbstbewusstsein betrifft. Nein, wenn ich so darüber
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